Frankfurt-Lese

Gehe zu Navigation | Seiteninhalt
Frankfurt-Lese
Unser Leseangebot
Es ist noch gar nicht lange her, da teilten die Menschen der Lausitz ihr Leben mit einer großen Schar rätselhafter und unheimlicher Naturgeister. So lebten in den Seen, Teichen und Tümpeln Wassermänner, vor denen man sich besser in Acht nahm, und in den dunklen Nächten schwirrten Irrlichter umher, die manch unbedachten Wanderer ins Unglück stürzten. Wenn die Not im Haus gar zu groß war, dann half zuweilen ein ganz besonderer Hausgeist: ein Glücksdrache, herbeigesehnt und gefürchtet zugleich.
Kaiser Karls Rechtsspruch

Kaiser Karls Rechtsspruch

Karl Wilhelm Ferdinand Enslin

Karl Wilhelm Ferdinand Enslin (1819-1875) fasste zunächst den Plan, historische Aufsätze über seine Heimatstadt Frankfurt zusammenzutragen und zu verfassen, die sich an ein größeres Publikum richten, die historischen Gegebenheiten bekannt machen und Liebe zu seiner Vaterstadt hervorrufen sollten. Bald aber entwickelte sich das Buch durch Recherchen und Sammeltätigkeit zu einer Sammlung von hauptsächlich Sagen, Bräuchen und geschichtlichen Ereignissen. Enslin beschloss ein Frankfurter Sagenbuch herauszugeben, das es bisher noch nicht gab. Er bediente sich verschiedener Quellen, hauptsächlich Sagensammlungen, auch der der Brüder Grimm, und Geschichtsbüchern über Frankfurt, die er bearbeitete.
Anna Hein
 
 

Kaiser Karls Rechtsspruch


„Ich fodr' Euch auf beim Rechte,
Wovon Ihr ein verdienter Pfeiler seid,
Kommt nun zum Spruch!"

        Shakespeare (Shylock)


Ein Kaufmann borgt von einem Juden tausend Gulden unter der Bedingung, daß, wenn er nicht am bestimmten Tag die Schuld zurückzahlen würde, der Jude ihm ein Pfund Fleisch aus seinem Leibe, beliebig wo, herausschneiden dürfe. Der Kaufmann geht die Bedingung ein, die Rückzahlungsfrist wird bestimmt, und vor Zeugen wird der Vertrag gerichtlich zu Papier genommen.
Der Kaufmann verreist nun außer Landes, um sein Glück zu versuchen, kehrt mit großem Gewinn wieder zurück, trifft aber den Juden nicht daheim und versäumt so die Frist der Rückzahlung seiner Schuld. Als er nun später den Juden trifft und ihm sein Geld geben will, will es dieser nicht nehmen, weil das Ziel verstrichen sei. Der Kaufmann bietet ihm mehr und immer mehr; der Jude aber hält fest an dem schriftlichen Vertrag, weil die rechtzeitige Frist versäumt sei, seinem Schuldner ein Pfund Fleisch aus dem Leibe zu schneiden. Dem Kaufmann gefällt dieser Handel gar nicht, und er bringt es endlich dahin, daß Beide zu dem Kaiser Karl dem Großen reiten, damit dieser den Zwist entscheide.
Unterwegs aber schläft der Kaufmann auf dem Pferde ein und reitet ein Kind todt, das ihm unvorsichtig in den Weg gelaufen. Der Vater des Kindes beschuldigt ihn nun des Mordes und folgt den beiden Reisenden an den Hof des Kaisers, um dort sein Recht geltend zu machen.
Angelangt im Kaiserschloss, begegnet dem Kaufmann noch ein neues unverschuldetes Unglück. Sitzend am offenen Fenster, ist er abermals eingeschlafen, stürzt hinunter und fällt auf einen alten Ritter, der unten sitzt und der durch den Fall getödtet wird. Und der Sohn des Ritters, Rache verlangend, tritt nun als dritter Kläger gegen den vom Unglück verfolgten Kaufmann auf.
Drei Rechtshändel sind also zu entscheiden, und bei jedem handelt es sich um ein Menschenleben.
Die drei Kläger erscheinen nun mit dem Beklagten vor dem Throne Kaiser Karls.
Zu dem Juden, der nach schriftlichem Vertrage sein Pfund Menschenfleisch will, spricht der Kaiser: „Deine Klage ist gerecht! Halten wir uns genau an euern Vertrag! Ein Pfund Fleisch! Nicht mehr und nicht weniger! Auch nichts Anderes, als pures Fleisch! Bring Messer und Wage! Mag der Kaufmann sich entblößen! Aber das sag' ich dir, Jude, sofern auch nur ein Tröpflein Blut fließt, so ist dein Leben verloren; denn nur von Fleisch ist in deinem Schein die Rede! Und sofern du auch nur ein Deutchen mehr oder weniger herausschneidest, so ist es abermals um deinen Kopf geschehen; denn genau von einem Pfund ist in deinem Scheine die Rede! Nun also: wacker darauf los geschnitten!"
Aber der Jude, als er solchen Spruch hört, steht gern von seinem Recht ab und macht weiter keinen Anspruch auf sein Pfund Fleisch.
Nun spricht der Kaiser zu dem Vater, dessen Kind der Kaufmann willenlos todtgeritten: „Der Verlust deines Kindes muß dir ersetzt werden! Nimm den Kaufmann mit dir nach Hause zu deinem Weib und laß ihn so lange deren ehelich Gemahl sein, bis dir ersetzt ist, um was er dich gebracht!"
Aber auch dieser Kläger thut gern nach solchem Spruch auf sein Recht Verzicht und verlangt weiter keinen Ersatz für sein Kind.
Nun kommt der Sohn des alten Ritters, welch letzteren der Kaufmann totdgefallen. Der Kaiser spricht: „Gleiches werde durch Gleiches gesühnt! Dein Vater ward erschlagen durch den Fall dieses Mannes - gut - so gehe du nun an dasselbe Fenster, an dem der Kaufmann saß; dieser aber soll unten an denselben Platz sich setzen, wo dein Vater sich befand: - darauf magst du den Beklagten dann abenfalls zu Tode fallen!"
Aber auch der dritte Kläger, der daneben zu fallen fürchtete, gab das Recht an seine Klage auf.
Und so waren die drei schwierigen Rechtshändel zu Gunsten und zur Zufriedenheit des unglücklichen Kaufmann entschieden, der dankend die Weisheit des großen Kaiser pries.

 

 

---
Textquelle: Karl Enslin: Frankfurter Sagenbuch. Sagen und sagenhafte Geschichten aus Frankfurt am Main. Neue Ausgabe. Frankfurt a. M., H. L. Brönner 1861, S. 7 ff.

Bildquelle: Darstellung Karls des Großen in der Chronik des Ekkehard von Aura um 1112/14. gemeinfrei, wikipedia

Weitere Beiträge dieser Rubrik

Fastradens Ring
von Karl Wilhelm Ferdinand Enslin
MEHR
Des Königs Weihnacht
von Ludwig Bechstein
MEHR
Der Hainer Hof
von Karl Wilhelm Ferdinand Enslin
MEHR
Rundhütchen
von Karl Wilhelm Ferdinand Enslin
MEHR
Der Lump
von Karl Wilhelm Ferdinand Enslin
MEHR
Werbung
Unsere Website benutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung unserer Inhalte stimmen Sie der Verwendung zu. Akzeptieren Weitere Informationen