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Wilhelm Genazino

Wilhelm Genazino

Ralph Zade

„Frankfurt. Flanieren. Wer würde nicht schon nach diesen zwei Worten erraten, dass von Wilhelm Genazino die Rede ist?“ So begann Oberbürgermeister Peter Feldmann am 29.4.2014 seine Rede zur Verleihung der Goethe-Plakette an Genazino. Frankfurt – die Wahlheimat des Autors – ist der Schauplatz fast aller seiner Romane, nicht in dem Sinne, dass markante Orte und wiedererkennbare Sehenswürdigkeiten darin eine Rolle spielten, sondern derart, dass die unscheinbaren Dinge, die er beschreibt, die Alltagssituationen, die Nischen, die Dinge, die man sonst achtlos übersieht, die Durchschnittsmenschen, denen man auf der Straße begegnet, eine Hauptrolle spielen und Anlass zu Reflexionen geben. Die Details, die die Protagonisten von Genazinos Romanen wahrnehmen und deren Beschreibung ein wesentliches Element seiner Texte bildet, sieht man nur, wenn man sich auf Langsamkeit einlässt, auf die Langsamkeit eines Fußgängers, des Fußgängers, der nicht zielstrebig an einen Ort gelangen will, sondern sich treiben lässt und die Muße findet, seine Umwelt wahrzunehmen, wie der Held des Romans „Ein Regenschirm für diesen Tag“ (2001), der als Schuhtester durch Frankfurt spaziert und dabei Beobachtungen macht.

Aufgewachsen ist der 1943 geborene Autor in Mannheim und machte nach dem Abitur zunächst ein Volontariat bei der Rhein-Neckar-Zeitung, bevor er in Frankfurt Germanistik, Philosophie und Soziologie studierte und bei der Satirezeitschrift „Pardon“ Redakteur wurde, einer Zeitschrift, die in der Adenauer-Zeit und ihren Folgejahren ein Gegengewicht zur herrschenden Moral und zur Springer-Presse bilden wollte und viele später bekannt gewordene Autoren und Zeichner beschäftigte, wie Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Hans Traxler, Chlodwig Poth und andere mehr. Seit Anfang der 70er Jahre ist Genazino freiberuflicher Schriftsteller – über die Schwierigkeiten einer solchen Existenz hat er sich verschiedentlich geäußert. Damit verbundene wirtschaftliche Probleme dürften in der Folge durch zahlreiche Preise, darunter 2004 der Georg-Büchner-Preis als angesehenster deutscher Literaturpreis, etwas gemildert worden sein.

Genazinos erster, schon 1965 erschienener Roman „Laslinstraße“ blieb relativ unbeachtet; der Durchbruch gelang ihm mit der 1977–79 erschienenen „Abschaffel-Trilogie“ (Abschaffel, 1977, Die Vernichtung der Sorgen, 1978, Falsche Jahre, 1979), die sich um den kleinen Angestellten Abschaffel, seine Sorgen und Nöte dreht, auch um sein problematisches Verhältnis zu Frauen, Bordellbesuche eingeschlossen. Mit dem Genre des Angestelltenromans knüpft Genazino an Vorbilder aus der Weimarer Republik an, etwa an Erzählungen von Joseph Breitbach oder an die große Angestellten-Studie des ebenfalls Frankfurt verbundenen Siegfried Kracauer (auch das bereits angesprochene Motiv des Flaneurs, das in den späteren Romanen Genazinos Bedeutung gewinnt, hat Parallelen in dieser Zeit, etwa in Texten von Franz Hessel). In der Trilogie, deren dauerhafter Erfolg sich unter anderem darin manifestiert, dass sie 2011 für die Aktion „Frankfurt liest ein Buch“ ausgewählt wurde, sind bereits wesentliche Elemente sichtbar, die auch im Folgenden Genazinos Werk charakterisieren. In kurzen Romanen (kaum einer davon hat mehr als 250 Seiten) steht meist – teils als Ich-Erzähler – ein 30-50-jähriger männlicher Protagonist im Mittelpunkt, ein mittelmäßiger Held, der dem Kleinbürgertum angehört oder ein sozial abgestürzter Akademiker ist, und der eher passiv agiert, „nicht selbst handelt, sondern behandelt wird“ (so Michael Bauer zu Abschaffel in: Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur, hg. von Thomas Kraft, Band 1, München 2003, S 397 ff.). Geschildert wird eine normale, durchschnittliche Lebenswelt, allerdings einschließlich ihrer Abgründe, der menschlichen Verlorenheit und Isoliertheit der Personen. Genazinos Figuren beobachten die Welt und reflektieren darüber, nicht auf philosophischem Niveau, aber doch oft mit einer beträchtlichen Weltweisheit. Das Beobachten führt zu Abschweifungen, zu ins Essayistische ausufernden Betrachtungen, die teils eine eigentliche Handlung verdrängen. Dabei sind die Romane von einer melancholischen, oft ans Resignative grenzenden Welthaltung geprägt, die aber nicht ohne Humor ist – einem leisen Humor, der von der satirischen Schärfe der Zeitschrift „Pardon“ kaum weiter entfernt sein könnte –, bei einem oft offenen Romanschluss, der ein gutes Ende zumindest denkbar erscheinen lässt. Insofern können Genazinos Texte durchaus eine Trostfunktion haben. Eine Konstante sind auch die Schwierigkeiten der Protagonisten mit Frauen, die häufig der Lebensuntüchtigkeit des Helden etwas entgegensetzen (z. B. einen Kinderwunsch, der den gescheiterten Philosophen in „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ (2009) vollends aus dem Gleichgewicht geraten lässt), manchmal aber auch nur Projektionsflächen des Helden sind, der am Aufbau einer Beziehung ebenso scheitert, wie an vielen anderen Dingen auch.

Frankfurt ist für diese Art von Literatur ein idealer Schauplatz, weil es – nicht überall, aber in vielen Vierteln – eher unspektakulär ist, Heimat kleiner Leute, architektonisch mittelmäßig, Wohnort von Provinzlern, die aus beruflichen Gründen hierhergezogen sind, und Tagesziel von Pendlern, durchschnittlichen Menschen, genauso durchschnittlich wie die Kulissen, in denen sie sich bewegen; das sind die Figuren, die Genazino oft in den Mittelpunkt stellt. In einem Buch, das Autobiographisches mit Beobachtungen aus Frankfurt verbindet, „Tarzan am Main“ (2013) hat er Frankfurt vielleicht am Unverstelltesten geschildert, auch hier wieder eher das Bahnhofsviertel und das – solange man die Wolkenkratzer nicht aus der Vogelperspektive sieht – öde Bankenviertel als touristisch Interessantes.

Genazino ist einer der Autoren, die eine Thematik haben, an der sie sich immer wieder abarbeiten, zu der sie immer wieder Variationen bringen und über die sie immer wieder reflektieren, insofern ist sein Horizont begrenzt, was auf der anderen Seite eine hohe Beobachtungsschärfe bedingt. Was bei ihm immer wieder besticht sind die Exaktkeit der Wahrnehmung, die fantasievollen Reflexionen und die Genauigkeit der Schilderung. Fantasie beweist der Autor vielfach auch bei der Wahl seiner Titel: „Die Liebe zur Einfalt“ (1990), „Die Obdachlosigkeit der Fische“ (1994), „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ (1996), „Die Liebesblödigkeit“ (2005), „Bei Regen im Saal“ (2014) – die Protagonisten seiner Romane kennzeichnet vielleicht der Titel seines 2016 erschienenen neuesten Romans am besten: „Außer uns spricht niemand über uns“.

 

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Bildquelle:

Vorschaubild, Wilhelm Genazino, 2013 beim Frankfurter Kunstverein, in Frankfurt am Main, Urheber: Dontworry via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

 

 

Literatur (Webseitenangabe Stand 24.8.2016):

Feldmann-Rede zur Verleihung der Goethe-Plakette (das Zitat daraus leitet die Rede ein): https://www.frankfurt.de/sixcms/media.php/738/2014%2009%2029%20Rede%20Goethe%20Plakette%20Wilhelm%20Genazino.pdf

Michael Bauer: Wilhelm Genazino, in: Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur, hg. von Thomas Kraft, Band 1, München 2003, S 397 ff.

Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), Text und Kritik, Nr. 162, Wilhelm Genazino, München 2004.

Ausgewählte Bücher Genazinos:

„Abschaffel-Trilogie“ (Erstausgaben Rowohlt 1977-79), Ausgabe in einem Band (Hanser, 2011)

„Die Liebe zur Einfalt“ (Rowohlt, 1990)

„Die Obdachlosigkeit der Fische“ (Rowohlt, 1994)

„Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ (Rowohlt, 1996)

„Die Kassiererinnen“ (Rowohlt, 1998)

„Ein Regenschirm für diesen Tag“ (Hanser, 2001)

„Die Liebesblödigkeit“ (Hanser, 2005)

„Tarzan am Main“ (Hanser, 2013)

„Bei Regen im Saal“ (Hanser, 2014)

„Außer uns spricht niemand über uns“ (Hanser, 2016)

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