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Deniz Ohdes Roman

Deniz Ohdes Roman "Streulicht"

Ralph Zade

Eine Jugend in Frankfurt-Sindlingen

Nicht nur als Verlagsstandort und als Veranstaltungsort der größten Buchmesse weltweit, sondern auch als Wohnort zahlreicher Autoren ist Frankfurt eine Literaturstadt par excellence. Und einige der Autoren, die in Frankfurt wohnen oder einmal in der Stadt gelebt haben, haben die Stadt zum Schauplatz von Romanen gemacht. Dabei ist das Spektrum sehr groß, sowohl was den Charakter der Bücher, als auch was die behandelten Stadtviertel und Milieus angeht. So verbindet man Martin Mosebach mit dem vornehmen Westend, Peter Kurzeck mit dem bohèmehaften Bockenheim und Jakob Arjounis Detektiv Kemal Kakankaya ermittelte unter anderem in der Halbwelt des Frankfurter Bahnhofsviertels. Das alles sind Milieus, deren Erkundung interessant ist, deren Behandlung in literarischen Werken aber nicht allzu ungewöhnlich ist.

Das ist in "Streulicht", dem Erstlingsroman von Deniz Ohde (*1988), der 2020 auf die Shortlist des deutschen Buchpreises gelangte, anders. Das Buch spielt in Frankfurt-Sindlingen - zwar wird der Stadtteil nicht ein einziges Mal namentlich genannt, die Örtlichkeit mit dem prägenden Industriepark Höchst (auch der Name "Höchst" fällt nicht) scheint aber für Ortskundige klar durch, bis in ortsgeschichtliche Details hinein. So wird etwa auf den Suizid einer Frau Bezug genommen, die Weihnachten 1996 in der örtlichen evangelischen Kirche zwei weitere Menschen mit in den Tod riss. Sindlingen ist ein Stadtviertel, das neben einer dörflichen Tradition durch ein stark vertretenes Arbeitermilieu gekennzeichnet ist, in dem Migranten eine große Rolle spielen. Dass ein gesellschaftliches Umfeld, in dem das Leben schwerer ist als andernorts und in dem Viele eher auf der Schattenseite des Lebens stehen, hier näher ausgeleuchtet wird, ist über die literarische Qualität des Buches hinaus kein kleines Verdienst. Und das gilt gerade auch für die sensible Vergegenwärtigung der Schwierigkeiten, die man überwinden muss, wenn man aus diesem Milieu kommend eine Bildungskarriere machen will. Man fühlt sich hier an Aufsteigergeschichten aus der französischen Literatur erinnert - etwa an Annie Ernaux, Didier Eribon oder Édouard Louis - von den als Autofiktion zu kennzeichnenden Büchern dieser Autoren unterscheidet sich "Streulicht" aber insofern, als die Autorin zwar von ihrer lebensgeschichtlich bedingten Milieukenntnis Gebrauch macht, aber keine im engeren Sinn autobiographische Geschichte erzählt. Dass die namenlose Ich-Erzählerin nicht mit der Autorin - die ebenfalls dem Arbeitermilieu entstammt und wie die Romanprotagonistin eine türkische Mutter hat - identisch ist, wird freilich nicht aus dem Buch selbst deutlich, sondern nur aus Deniz Ohdes Interviews.

Im Mittelpunkt des Buchs steht der Bildungsweg der Ich-Erzählerin. Dieser gelingt es zwar zunächst, aufs Gymnasium zu kommen - mit einer Familie im Hintergrund, in der der Vater Alkoholiker ist, der Großvater sehbehindert, mit einer Wohnung, in der es keine Räumlichkeit gibt, in der man vernünftig lernen könnte, in der viel Platz durch einen krankhaften Hortungs- und Sammelwahn des Vaters belegt ist, und in der zwischen Schmutz und Armut eine bedrückende Atmosphäre herrscht, ist das schon eine Leistung. Aber dann muss sie "die Schulform verlassen". Wie es dazu gekommen ist, wird sehr subtil, dezent und zwischen den Zeilen geschildert, es geht um Demütigungen, solche ausländerfeindlicher Natur und solche, die ihre soziale Herkunft in den Blick nehmen. Und es geht darum, dass sie sich nichts zutraut, da ihre Umwelt ihr ja ebenfalls nichts zutraut und sie das immer wieder spüren lässt. Die Migrantenthematik spielt untergründig zwar stets eine wichtige Rolle, es wird aber deutlich, dass es nicht allein an ihrer ausländischen Mutter liegt, dass der Erzählerin, die Deutsch als Muttersprache spricht und in deren Alltag der ausländische Hintergrund der Mutter keine dominierende Rolle spielt, nichts gelingt - eher fehlt es ihren Eltern an finanziellem und sozialem Kapital, sodass sie keine Unterstützung erfährt, ein Manko, das ihre Lehrer nicht nur nicht ausgleichen, sondern noch verstärken. Ihre beiden Freunde Sophia und Pikka stammen aus besseren sozialen Verhältnissen und bleiben auf dem Gymnasium, sodass das "Aussieben" - dass das nötig sei, sagt ein Lehrer gleich zu Beginn der Gymnasialzeit wörtlich - gleichzeitig eine Trennung von engen Bezugspersonen bedeutet. Schließlich schafft die Erzählerin es auf Umwegen doch noch zum Abitur, nach einem Jahr Abendschule, wo sie nicht nur gute Noten hat, sodass sie eine Empfehlung für ein Oberstufengymnasium erhält, sondern auch von einer Lehrerin und von einer Mitschülerin ermutigt wird. Und schließlich gelingt es ihr auch, das Abitur zu schaffen, mit einer guten Note, und zu studieren - bezeichnenderweise nicht in ihrer Heimatstadt. (Deniz Ohde lebt mittlerweile in Leipzig, das wie die beschriebene Stadt über ein Universitätshochhaus, den sogenannten hohlen Zahn verfügt, das allerdings heute nicht mehr von der Universität genutzt wird.) Doch auch das Studium bringt nicht die Lösung aller Probleme und die durch die Herkunft bedingten Schwierigkeiten setzen sich fort. Also kein Happy End, doch zumindest ein Ende mit verhaltenem Optimismus.

Das Buch ist kein Frankfurt-Roman, sondern kann exemplarisch auch zum Verständnis der Verhältnisse an anderen westdeutschen Industriestandorten mit stark migrantisch geprägtem Arbeitermilieu beitragen. Dennoch können gerade Frankfurter und Nichtfrankfurter, die Frankfurt-Sindlingen kennen, es mit Gewinn lesen. Gerade Frankfurt mit seinem wohlhabenden Bürgertum und dem Reichtum, der sich in den Bankentürmen spiegelt, eine Stadt, die weithin als Wirtschaftszentrum wahrgenommen wird und eine der prosperierendsten Metropolen Deutschlands ist, ist ohne das hier geschilderte Milieu nicht vollständig zu begreifen. Dass der Roman sprachlich-stilistisch zu überzeugen weiß und eine atmosphärisch dichte und lebendige Schilderung bietet, macht die Lektüre vor allem aber auch unter literarischen Aspekten lohnend. Ein Buch, das man seiner literarischen Qualitäten wegen durchaus mit Genuss lesen kann, das man aber der (wie man ahnt sehr realistisch) geschilderten Verhältnisse wegen mit Unbehagen und mit Nachdenklichkeit zuklappt.

*****

Textquelle:

Deniz Ohde, Streulicht. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020.

Bildquellen:

Vorschaubild: Farbenstraße/Johann-Sittig-Straße, Urheber: Sebastian Kasten via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.

Industriepark am Tor West, 2006, Urheber: Sebastian Kasten via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.

Ev. Kirche Sindlingen-Süd, 2007, Urheber: S. Kasten via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.

Frankfurter Skyline von der Deutschherrnbrücke, 2015, Urheber: Christian Wolf via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0 de.

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