2013 wurde im Rahmen der Reihe „Frankfurt liest ein Buch“, in der jedes Jahr ein Buch mit Frankfurt-Bezug in Veranstaltungen diskutiert wird, Siegfried Kracauers Roman „Ginster“ präsentiert. Das 1928 erschienene Werk schildert anhand eines Protagonisten, der teilweise mit Kracauer – der als Journalist u. a. unter dem Pseudonym „Ginster“ publizierte – zu identifizieren ist, die Stimmung in Frankfurt im Ersten Weltkrieg. Der junge Architekt Ginster – diesen Beruf hatte auch der Autor erlernt – steht kritisch zum Krieg und versucht um eine Einberufung herumzukommen. Obwohl er schließlich den Gestellungsbefehl erhält, gelingt es ihm, einen Kriegseinsatz zu vermeiden. Der Wert des Romans, der mit relativ wenig Handlung auskommt, liegt vor allem in der atmosphärisch genauen Wiedergabe der Stimmung der damaligen Zeit. Während es eine ganze Reihe von Büchern gibt – von Remarque, Jünger, Ludwig Renn, Edlef Köppen – die beschreiben, was der Krieg für die Soldaten an der Front bedeutete, sind Zeugnisse von der „Heimatfront“ seltener; insofern kommt „Ginster“ über die literarische Bedeutung hinaus dokumentarische Bedeutung zu. Der Held lässt sich dabei als pazifistisch einordnen – ob Kracauer das wirklich schon zu der Zeit war, zu der das Buch spielt, ist stark in Zweifel zu ziehen, jedenfalls war er es aber bei dessen Abfassung.
War der am 8.2. 1889 in Frankfurt geborene Kracauer, dessen Onkel Isidor ein nach vielen Jahrzehnten immer noch als Standardwerk geltendes Opus über die Geschichte der Frankfurter Juden verfasste, das leider nur noch antiquarisch und zu hohen Preisen zu haben ist, nun ein Romancier? Ja und nein. Er schrieb nach dem „Ginster“, der für sich allein schon beträchtliche literarische Bedeutung hat, 1932 noch einen zweiten Roman, „Georg“, sodass man ihn als solchen bezeichnen könnte. Nur würde das sein Wirken nicht annähernd vollständig beschreiben. Wie schon gesagt war Kracauer von der Ausbildung her Architekt – das Studium schloss er 1914 mit einer Dissertation über die Schmiedekunst in Preußen ab. Außerdem war er auch Journalist – und zwar ein fruchtbarer, allein seine journalistischen Kleinbeiträge füllen vier Bände in der Standardwerkausgabe, darüber hinaus aber auch Soziologe – seine Studie „Die Angestellten“ gilt heute noch als Meilenstein –, Filmtheoretiker, Geschichtsphilosoph und Autor einer immer noch lesenswerten Biographie über den Operettenkomponisten Jacques Offenbach, kurz ein Geist, der sämtliche Disziplinen transzendierte und der insofern mit den Instrumenten heute sehr spezialisierter Geisteswissenschaften nur schwer vollständig zu erfassen ist, vielleicht aber gerade deshalb in diesen auf großes Interesse stößt.
Kracauer war das einzige Kind eines als kleinbürgerlich zu bezeichnenden jüdischen Ehepaars – sein Vater war Handlungsreisender – und diese Herkunft war auch verantwortlich dafür, dass er zunächst Architektur studierte, um einen „Brotberuf“ zu haben, in Darmstadt, München und Berlin, wobei er nebenher Vorlesungen in Philosophie und Soziologie besuchte. Ab 1915 arbeitete er dann für den Frankfurter Architekten Max Seckbach, der u. a. durch Synagogenbauten bekannt wurde. 1918-1921 schloss sich eine Tätigkeit für das Stadtbauamt Osnabrück an, bevor Kracauer nach Frankfurt zurückkehrte.
Die Jahre, die Kracauer dann noch in Frankfurt verbrachte – 1921 bis 1930 – wurden für ihn prägend. Frankfurt entwickelte sich in dieser Zeit zu einem intellektuellen Zentrum. Ein wichtiges Element dabei war das 1923 gegründete Institut für Sozialforschung, an dem sich die Frankfurter Schule konstituierte, mit Protagonisten wie Horkheimer, Adorno, Leo Löwenthal oder Erich Fromm. Besonders zu Adorno entwickelte Kracauer eine enge Beziehung, die durch einen 43 Jahre andauernden Briefwechsel, der 2008 veröffentlicht wurde, gut dokumentiert ist – das Verhältnis war zwischenzeitlich oft nicht unproblematisch, aber vielleicht gerade deshalb erlauben die Briefe einen tiefen Einblick in den Charakter der beiden Korrespondierenden. Ob Kracauer auch inhaltlich der Frankfurter Schule zuzuordnen ist, ist umstritten. Manch einer meint das – es ist aber aufgrund der Heterogenität seines Werkes schwer zu belegen, sodass vielleicht die Auffassung, die einen eigenständigen, von Schulen unabhängigen Denker in ihm sehen will, die besseren Argumente hat.
Wichtig war Frankfurt auch als Stadt, in der die Frankfurter Zeitung erschien, eines der wenigen Blätter in der Weimarer Republik, die demokratisch waren und für die Annahme des Versailler Vertrags plädierten. Berühmt war diese Zeitung, die als Vorgänger der heutigen Frankfurter Allgemeinen Zeitung gelten kann, vor allem auch wegen ihres Feuilletons – eines Feuilletons, an dem Siegfried Kracauer wesentlichen Anteil hatte. 1930 – in dem Jahr, in dem er die Bibliothekarin Lili Ehrenreich heiratete – ging er als deren Feuilletonchef nach Berlin. Unmittelbar nach dem Reichstagsbrand verließ Kracauer, der sowohl als Jude, als auch als Demokrat – der zudem in „Die Angestellten“ (1930 erschienen) die politische Anfälligkeit des Kleinbürgertums für politische Heilsideologien genauer prognostiziert hatte, als ihm lieb sein konnte – im „Dritten Reich“ sehr gefährdet war, Deutschland und ging mit seiner Frau zunächst nach Paris.
Als Frankreich durch Deutschland besetzt wurde, gelang dem Ehepaar in letzter Minute – 1941 – die Flucht in die USA. Hier verbrachte Kracauer die letzten 25 Jahre seines Lebens; die in dieser Zeit entstandenen Schriften – v. a. wesentliche Werke zur Filmtheorie, wie etwa „Von Caligari zu Hitler“ verfasste er auf Englisch. Anders als etwa Adorno erhielt Kracauer nach dem Krieg kein Angebot, nach Deutschland zurückzukehren. Er hätte es wohl auch nicht angenommen. Dazu war sein Misstrauen in Deutschland zu groß – man kann es ihm nicht verdenken. Eine Rolle dabei wird auch gespielt haben, dass seine Mutter Rosette, geborene Oppenheimer, 1942 von den Nazis ermordet worden war.
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Textquellen:
Später, Jörg: Siegfried Kracauer- Eine Biographie, Frankfurt: Suhrkamp, 2016.
Kracauer, Siegfried: Werke in neun Bänden (16 Büchern): Mülder-Bach, Ingrid; Belke, Ingrid (Hrsg.): Frankfurt: Suhrkamp, 2004-2012.
Kracauer, Siegfried; Adorno, Theodor W.: Der Riß geht auch durch mich: Briefwechsel 1923-1966: Schopf, Wolfgang (Hrsg.): Frankfurt: Suhrkamp, 2008.
Frankfurt liest ein Buch 2013: abgerufen von < http://www.frankfurt-liest-ein-buch.de/2013/buch/buch.html > am 03.09.2017.
Bildquellen:
Vorschaubild: Photo of a young Siegfried Kracauer: 1.Januar 1925: Urheber: unbekannt via Wikimedia Commons gemeinfrei.
Erste Seite der Jubiläumsausgabe "50 Jahre Frankfurter Zeitung", veröffentlicht am Sonntag, den 26. August 1906: Urheber: Frankfurter Zeitung via Wikimedia Commons gemeinfrei.