„Natürlich Peter Kurzeck, weil er das Jahrhundertgenie deutscher Sprache ist. So etwas wie das, was er macht, gibt es sonst nirgends. Der Einzige auf Marcel-Proust-Niveau.“ So antwortete Kurzecks Schriftstellerkollege Andreas Maier 2008 auf eine Umfrage, wer den Literaturnobelpreis bekommen solle.
Peter Kurzeck war ein Erzähler. Das ist wörtlich zu nehmen. Seine Bücher sind einem mündlichen Erzählduktus angenähert. Und er ist noch weiter gegangen. Neben Lesungen von Texten, die als Buch existieren, hat er auch Hörwerke veröffentlicht (z.B. „Ein Sommer der bleibt“, 2008), die ohne Vorlage, ja sogar ohne Manuskript entstanden sind, aus reinem (wenn auch von einem Hörbuchredakteur unhörbar begleiteten) Erzählen, und damit ein neues Genre geschaffen.
Wer mündlich erzählt, der erzählt nicht linear, der Reihenfolge nach. Er erzählt so, wie ihm die Erinnerungen kommen. Er korrigiert sich, beginnt neu, wiederholt, beleuchtet Dinge noch einmal, von einer anderen Seite. Er benutzt auch eine andere Sprache als jemand der schreibt, kürzere Sätze, knappere Sätze, Sätze die einen Sound entwickeln und damit einen Sog erzeugen.
Kurzeck wurde 1943 im Sudetenland geboren und kam drei Jahre später mit seinen Eltern nach Staufenberg in Oberhessen. Mit 14 begann er eine kaufmännische Lehre; mit 18 Jahren nahm er eine Stellung bei der US-Armee im nahen Gießen an, wo er es bis zum Personalchef für die deutschen Zivilangestellten brachte. Nach Beendigung dieser Tätigkeit im Jahre 1971 lebte er an verschiedenen Orten im In- und Ausland. 1977 siedelte er sich in Frankfurt am Main an, um sich dort ganz dem Schreiben zu widmen; um dies finanzieren zu können nahm er immer wieder Nebentätigkeiten an. 1993 begründete er in Uzès (Südfrankreich) einen Zweitwohnsitz. 2013 ist Peter Kurzeck in Frankfurt am Main gestorben; er ist auf dem Frankfurter Hauptfriedhof begraben.
Staufenberg und Frankfurt, genauer gesagt die Gegend um die Jordanstraße in Frankfurt-Bockenheim, sind die Pole des Kurzeckschen Erinnerns. Zwar tragen seine Bücher vielfach die Bezeichnung „Roman“, sie sind aber letztlich alle autobiographisch. Und sie hängen insofern auch alle miteinander zusammen, besonders der seit den 90er Jahren entstandene Zyklus „Das alte Jahrhundert“, der ursprünglich zwölf Bände umfassen sollte, von denen der Autor aber nur fünf fertigstellen konnte. Eine Nachlassedition, von der mittlerweile der erste Band (als Band 6 von „Das alte Jahrhundert“) erschienen ist, soll die zu Lebzeiten erschienenen Teile ergänzen, wird aber nur eine Annäherung sein und nicht zu einer Vervollständigung entsprechend dem ursprünglichen Vorhaben führen können. Der Zusammenhang der Bände des „Jahrhundert“-Zyklus, die mit der Trennung Kurzecks von seiner Lebensgefährtin in den 80er Jahren ihren Ausgang nehmen, aber auch weit Davorliegendes erinnern – gewidmet sind sie Carina, der Tochter des Autors, die er durch die Trennung zu verlieren drohte – erstreckt sich nicht nur auf das Wiederkehren von Personen und Motiven. Aus vorhergehenden Bänden bekannte Begebenheiten werden wieder aufgegriffen und von anderer Seite beleuchtet, vielfach werden auch Titel anderer Bände zitiert, außerdem wird nicht nur bereits Erzähltes aus neuer Perspektive wiederholt, sondern auch ganze Sätze kehren wieder, oft in identischer Form.
„Die ganze Gegend erzählen, die Zeit.“ ist einer dieser wiederkehrenden Sätze, der sich durch mehrere Bücher zieht. Damit sind wesentliche Intentionen des Autors angesprochen: Erzählt werden soll das ganze Leben – die Gegend, das Umfeld, wird in allen Details erfasst, auch solchen, die banal erscheinen mögen; erzählt wird von den großen Veränderungen, die es im Blickfeld des Erzählers gegeben hat, aber eben auch von dem, was in den Supermärkten zu kaufen gab oder von den Beilagen, die man beim örtlichen Italiener zum Schnitzel bestellen konnte. Der Anspruch des Autors ist insofern ein totaler. Und er ist dabei gleichzeitig beschränkt, denn er betrifft nur das, was sich im unmittelbaren Lebensumfeld ereignet hat. Nicht nur Politik und Weltgeschehen werden ausgeklammert, sondern sogar Vorgänge, die sich in der Nähe des Autors abgespielt haben, die ihn aber nicht unmittelbar betrafen. So berichtet Kurzeck ausführlich von seiner Halbtagsarbeit in einem Antiquariat, von dem Antiquariat, das in der Jordanstraße zur selben Zeit von dem jungen Joschka Fischer, der es später zum deutschen Außenminister bringen sollte, eröffnet wurde, ist dagegen nicht die Rede.
Die minutiöse und in elliptischen Schleifen immer aufs neue angegangene Rekonstruktion der Vergangenheit betrifft das „Erzählen der Zeit“. Das tut der Autor, indem er sich erinnert. „Die Zeit, das sind wir doch selbst?“ lautet ein weiterer der wiederkehrenden Sätze. Hier liegt die von Andreas Maier angesprochene Parallele zu Proust, der – wenn auch in ganz anderem Stil und in ganz anderem sozialem Umfeld – ebenfalls versucht hat, in einem monumentalen Werk die verlorene Zeit wiederzufinden und zu konservieren, wobei ebenso wie bei Kurzeck Leitmotive wiederkehren und eine einem Musikstück vergleichbare Struktur bilden, was einen Teil des Reizes des Werkes beider Autoren ausmacht.
Dem immer neuen Ansetzen zum Erzählen entsprach auch der von Korrekturen und Überschreibungen geprägte Arbeitsprozess Peter Kurzecks. Einen Roman („Kein Frühling“) hat er nach Jahren in stark erweiterter Fassung noch einmal herausgegeben. Seine Manuskripte der Spätzeit waren teils so mit Korrekturen übersät, dass sie nicht elektronisch erfasst werden konnten. Vom 19. Juli 2010 bis zum 17. September 2010 diktierte er das Manuskript seines letzten und umfangreichsten Romans („Vorabend“) öffentlich – ein Ereignis, an das Frankfurter Literaturfreunde sich noch lange erinnern werden. Sein Tod drei Jahre später kam für viele überraschend. Auch wenn das „alte Jahrhundert“ nun unvollendet bleibt, ist es als Monument der Erinnerung unvergleichlich, eine in ihrer Art und Detailgenauigkeit einzigartige Vergegenwärtigung des Lebens in der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung.
Literatur (Webadressen Stand 25.9.2016):
Text und Kritik, Heft Juli 2013, Peter Kurzeck
Eingangszitat Andreas Maier:
http://www.zeit.de/2008/42/Nobelpreis
Seite des Frankfurter Literaturhauses zum öffentlichen Diktat des Romans „Vorabend“:
Bücher von Peter Kurzeck (alle erschienen im Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main/Basel ):
Der Nußbaum gegenüber vom Laden, in dem du dein Brot kaufst (1979)
Das schwarze Buch (1982)
Kein Frühling (1987; erweiterte Neuauflage 2007)
Keiner stirbt (1990)
Mein Bahnhofsviertel (1991)
Romanzyklus „Das alte Jahrhundert“
Übers Eis (1997)
Als Gast (2003)
Ein Kirschkern im März (2004)
Oktober und wer wir selbst sind (2007)
Vorabend (2011)
Bis er kommt (Fragment; Edition aus dem Nachlass; 2015)
Hörwerke (soweit nicht anders angegeben erschienen im Hörbuchverlag Supposé)
Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit; 4 CDs, Konzeption und Regie: Klaus Sander, Erzähler: Peter Kurzeck (2007)
Da fährt mein Zug. Peter Kurzeck erzählt; CD; Konzeption und Regie: Klaus Sander. Erzähler: Peter Kurzeck (2010)
Mein wildes Herz. Peter Kurzeck erzählt, 2 CDs (2011).
Unerwartet Marseille Peter Kurzeck erzählt, 2 CDs, Stroemfeld Verlag (2012)
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Bildquellen:
Peter Kurzeck (nach einer Lesung 2008) Urheber: Dontworry via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0
Peter Kurzeck (bei einer Lesung 2005) Urheber: Liberal Freemason via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0