„Ein Frankfurt der Vorstellung und das reale Frankfurt wohnen in mir dicht nebeneinander und berühren und überlappen sich sogar; das phantastische Frankfurt besteht aus vielen realen Elementen und das reale hat schwarz-phantastische Züge.“
Martin Mosebach ist Frankfurter; er wurde 1951 in der Stadt geboren, ging dort auf das Lessing-Gymnasium, studierte in Frankfurt und Bonn Jura und vollendete 1979 seine Ausbildung mit dem 2. Staatsexamen, zog es dann aber vor Schriftsteller zu werden. Gleich sein erster Roman, „Das Bett“ (1983), vereinigt die Elemente, die das Eingangszitat (aus dem Essay „Mein phantasiertes und mein wirkliches Frankfurt“, wieder gedruckt in dem Band „Mein Frankfurt“, 2002, S. 146) beschreibt: Ein reales Frankfurt, nämlich das der Nachkriegszeit, wird kontrastiert mit Phantasieeinsprengseln und mithilfe metaphorisch verdichteter Erinnerungssplitter memoriert. Das umfangreiche Werk, das sich um Stephan Korn, einen zurückgekehrten jüdischen Emigranten dreht, bietet vielleicht gerade durch seine Phantasieelemente einen lebendigen Einblick in das Frankfurt der Zeit. Auch Mosebachs zweiter Roman, „Ruppertshain“ (1985) spielt in der Gegend, nämlich in dem titelgebenden Ort am Taunus; es geht um eine Villa, die zum Gegenstand der Begehrlichkeiten von Immobilienspekulanten wird. Noch ambitionierter und auch noch umfangreicher als sein voluminöser Erstling war dann „Westend“ (1992), ein die Zeit von etwa 1950 bis 1968 umfassender Gesellschaftsroman, der das Frankfurter Westend in mehr als einer Hinsicht lebendig werden lässt. Ein Panoramawerk, das zwar nicht ganz so ausgreifend ist, wie die großen Wien-Romane des von Mosebach bewunderten Heimito von Doderer, aber doch ein tiefgehendes und weit gespanntes Bild des in ihm dargestellten Stadtteils bietet, eines Stadtteils, der bis heute ein Zentrum des Frankfurter Bürgertums ist, und den der Autor – Sohn eines Arztes und Psychotherapeuten und insofern Teil dieses Bürgertums – aus langjähriger Anschauung kennt. Weitere Frankfurt-Romane sind „Eine lange Nacht“ (2000) – hier wird u.a. der Wandel der Frankfurter Geschäftswelt seit den 70er Jahren gespiegelt –, „Der Mond und das Mädchen“ (2007) – angesiedelt am Basler Platz in der Nähe des Hauptbahnhofs – und „Das Blutbuchenfest“ (2014), das in Frankfurt spielt, aber auch Querverbindungen zum Bosnien-Krieg in den 90er Jahren enthält.
Frankfurt-Bezüge haben zum größten Teil auch die Romane Mosebachs, die vom Aufbruch seiner Helden in auf die eine oder andere Weise exotische Welten handeln, da diese Helden Verbindungen nach Frankfurt haben oder von dort abreisen: in die Türkei („Die Türkin“, 1999), in die Arktis („Der Nebelfürst“, 2001), nach Indien („Das Beben“, 2005) oder nach Marokko in dem für 2016 angekündigten Roman „Mogador“. Und seine Romane bilden nur einen Teil des Werks: seine Essays – oft über Frankfurt – sind ebenso bekannt; auch Erzählungen, Reiseberichte und Libretti hat er geschrieben.
Martin Mosebach ist umstritten. Er hat zahlreiche angesehene Literaturpreise erhalten, darunter auch den bedeutendsten deutscher Sprache, den Georg-Büchner-Preis (2007); seine Werke haben vielfach begeisterte Kritiken erhalten. Trotzdem trifft er in Teilen des Feuilletons auf erbitterten Widerstand. Denn er steht quer zum – zumindest unter Literaturkritikern – linksliberalen Zeitgeist, quer aber auch zu dem, was literaturästhetisch für zeitgemäß erachtet wird. Seine ausgefeilten, schön geschriebenen, oft mit Ironie gewürzten Satzperioden entsprechen so gar nicht dem, was man erwartet, gemahnen eher ans 19. Jahrhundert; sein langsames Erzähltempo steht im Konflikt mit der Schnelllebigkeit der Gegenwart; der Umfang besonders der ersten Romane geht über das hinaus, was sich schnell lesen lässt. Auch ist der Gesellschaftsroman eine Form, die viele für anachronistisch halten. Zudem ist Mosebach – eine Seltenheit im heutigen Kulturbetrieb – Katholik, und nicht nur das, ein besonders konservativer Katholik, der gegen die Liturgiereform des 2. Vatikanums eintritt und zur Tridentinischen Messe zurückkehren will (Häresie der Formlosigkeit, 2002). Er bezeichnet sich selbst als „reaktionär“ – ein Schimpfwort eigentlich – und will darunter (im Sinne des von ihm verehrten kolumbianischen Philosophen und Aphoristikers Nicolás Gómez Dávila, 1913-94) etwas Ästhetisches verstanden wissen, sieht sich als jemand, der nicht bloß Bestehendes bewahren will – das wäre konservativ – sondern Verlorenem nachtrauert. Unter anderem auch in Frankfurt, einer Stadt, in der der Zweite Weltkrieg Lücken geschlagen hat wie fast nirgendwo sonst, Lücken, die vielfach mit ästhetisch verunglückten Bauten gefüllt wurden, was er in verschiedenen Essays beklagt. Aber nicht nur da gibt es Verlorenes, sondern eben auch in der Kultur und in der Literatur. Dem Vergangenen huldigt Mosebach übrigens auch im Habitus, z.B. mit Einstecktüchern in der Jacketttasche.
All das ist Zeichen der Individualität des Autors, einer Individualität, die ihn seinen Weg konsequent jenseits der gängigen Strömungen verfolgen lässt. Und wenn man auch mit einigem, was er schreibt, nicht einverstanden ist, so ist es doch meist originell, eigenständig und erschöpft sich nicht in einer Reflexion des Zeitgeistes. Insofern mag Mosebach zwar keine Chancen haben, schulbildend zu wirken – er ist das Gegenteil von Avantgarde – aber er hat sich mit seinem von allen Widerständen unbeeindruckten Beharren auf einer konservativen Sicht auf die Literatur und mit der souveränen Beherrschung der entsprechenden Mittel einen wichtigen Platz in der deutschen Gegenwartsliteratur erschrieben, den ihm auch seine Gegner nicht mehr streitig machen können.
Am besten ist Mosebach stets bei der Beschreibung dessen, was er genau kennt – der Beschreibung der letzten Jahrzehnte in seiner Heimatstadt – und er ist insofern mit seinen großen Frankfurt-Romanen auch zu einem der bedeutendsten Chronisten Frankfurts geworden, was etwas heißen will in einer Stadt, die eine ganze Reihe von Autoren hervorgebracht hat, die ihren Platz in der Literaturgeschichte haben.
Literatur:
Eingangszitat aus den Essay/Anthologieband: „Mein Frankfurt“, Suhrkamp 2002, S. 146
Erwähnte Romane Mosebachs:
„Das Bett“ (Hoffmann und Campe, 1983; durchgesehene Neuauflage dtv, 2002)
„Ruppertshain“ (Hoffmann und Campe, 1985)
„Westend“ (Hoffmann und Campe, 1992 durchgesehene Neuauflage dtv, 2004 )
„Die Türkin“ (Aufbau, 1999)
„Eine lange Nacht“ (Aufbau, 2000)
„Der Nebelfürst“ (Die andere Bibliothek, 2001)
„Das Beben“ (Hanser, 2005)
„Der Mond und das Mädchen“ (Hanser, 2007)
„Das Blutbuchenfest“ (Hanser, 2014)
„Mogador“ (Rowohlt, 2016)
Essays:
Häresie der Formlosigkeit (Karolinger, 2002/ Neuausgabe Hanser, 2007) – enthält Mosebachs Kritik an der Reform der katholischen Liturgie
Schöne Literatur (Hanser, 2006) – u.a. mit Beiträgen zu Heimito von Doderer und Nicolás Gómez Dávila
Bildquelle:
Vorschaubild, Martin Mosebach, Heine Haus – Düsseldorf, 05.Februar 2014 Lesung aus "„Das Blutbuchenfest“ Urheber: Udoweier via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)