Frankfurt-Lese

Gehe zu Navigation | Seiteninhalt
Frankfurt-Lese
Unser Leseangebot

Neu

Flechtwerk
Lebendige Nachbarschaft und Integration

so heißt die erste Ausgabe unserer neuen Zeitschrift

FLECHTWERK - Lebebendige Nachbarschaft und Integration

Die Deutschen sind ofener geworden und haben gleichzeitig mehr Sinn für Heimat, Familie und Nachbarschaft entwickelt. Es müssen neue Wege gesucht werden, um Ausgrenzung und Anonymität zu verhindern.

Die Siedlung Römerstadt

Die Siedlung Römerstadt

Sabine Gruber

Am 4. Juni 1930 besuchte der Kunstexperte und Kosmopolit Harry Graf Kessler gemeinsam mit einem Freund, dem französischen Bildhauer Aristide Maillol, und dessen Geliebter Lucile Passavant Frankfurt. Nachdem die Besucher den Römer und den Dom besichtigt hatten, sich in den engen Gassen der Altstadt umgesehen und auch dem Städelschen Institut einen Besuch abgestattet hatten, zog es Kessler zu den Zeugnissen moderner Architektur an denen Frankfurt damals so reich war wie kaum eine andere deutsche Stadt. Zunächst besuchten sie das Waldstadion, dann fuhren sie zur prominentesten der neu angelegten Vorort-Siedlungen: zur Siedlung Römerstadt im Südwesten von Heddernheim. Kessler erklärte seinem Freund, dass die Sonnenanbeter, die sie im Schwimmbad am Stadion gesehen hatten, wie die neue Architektur „ein Teil eines neuen Lebensgefühls, einer neuen Lebensauffassung“ seien, „die in Deutschland nach dem Kriege siegreich vorgedrungen sei, man wolle wirklich leben, Licht, Sonne, Glück, seinen eigenen Körper geniessen. Es sei eine nicht auf einen kleinen, exklusiven Kreis beschränkte, sondern eine Massen Bewegung, die die ganze Jugend ergriffen habe. Eine andre Äusserung dieses neuen Lebensgefühls sei die neue Architektur, die neue Wohnkultur“. Maillol, eigentlich kein besonderer Liebhaber moderner Architektur, brach angesichts der Siedlung Römerstadt in Begeisterung aus. Nie zuvor habe er etwas Derartiges gesehen. Diese Architektur sei perfekt, ohne Makel.

Lage- und Gartengestaltungsplan der Siedlung Frankfurt-Heddernheim
Lage- und Gartengestaltungsplan der Siedlung Frankfurt-Heddernheim

Die Siedlung Römerstadt wurde in den Jahren 1927 und 1928 auf einem Gelände angelegt, auf dem zuvor zahlreiche römische Funde entdeckt worden waren. Daher bezog sie ihren Namen. Planer der neuen Siedlung war der Architekt Ernst May, den der Frankfurter Bürgermeister Ludwig Landmann als Experten für modernen Siedlungsbau 1925 als Stadtbaurat in die Stadt geholt hatte, nachdem May schon zuvor in Breslau für die Anlage von Siedlungen zuständig gewesen war. In Zusammenarbeit mit zahlreichen Architekten, Ingenieuren und Designern schufen May und Landmann das, was man als das „Neue Frankfurt“ (so auch der Titel einer von Ernst May herausgegebenen Zeitschrift) bezeichnete. Der bezahlbare Wohnraum war in Frankfurt schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts knapp geworden. Nachdem die Stadt bereits im 19. Jahrhundert erweitert worden war, mussten nun auch die Vororte in die Stadterweiterung einbezogen werden, um die wachsende Nachfrage – vor allem nach Mietwohnungen, aber auch nach Einfamilienhäusern – befriedigen zu können. Anders als die „Mietskasernen“ des 19. Jahrhunderts, deren vorrangiger Zweck es war, möglichst vielen Menschen eine Unterkunft zu bieten, sollten die Neubauten der 20er Jahre auch eine sozialpolitische Funktion erfüllen. Vor allem Arbeiterfamilien sollte nicht nur bezahlbarer, sondern auch komfortabler Wohnraum geboten werden. Dazu wurde eine möglichst hochwertige Ausstattung der Häuser angestrebt (so wurden beispielsweise die Badezimmer mit fließendem warmen Wasser ausgestattet, die Wohnräume wurden zur Sonne hin ausgerichtet und die gesamte Siedlung wurde elektrifiziert). Der Grundriss der Wohnungen orientierte sich nicht mehr wie in früheren Zeiten am Bedarf von Großfamilien, sondern an dem von Kleinfamilien mit nur zwei Generationen unter einem Dach.

Anders als bis in das 20. Jahrhundert üblich – und gegenwärtig auch wieder im Trend liegend – hatten die Häuser der Siedlung Römerstadt keine Wohnküchen, sondern der Küchenbereich sollte ausschließlich dem Kochen dienen. Dazu wurde er auf eine Breite von 1,90 m und eine Länge von 3,44 m verkleinert. Ergänzend dazu gab es einen Essplatz im Wohnzimmer. Zur Erleichterung der Küchenarbeit sollte vor allem die von Margarete (Schütte-)Lihotzky entworfene Einbauküche dienen, die, als „Frankfurter Küche“ bezeichnet, zu den Prototypen ihrer Art zählt. Durch eine Rationalisierung der Küchenarbeit sollte der zeitliche Bedarf für die einzelnen Arbeiten gesenkt werden. Frauen sollten auf diese Weise die Möglichkeit erhalten neben der Hausarbeit noch einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hierzu sollten lange Wege innerhalb des Koch-Bereichs und unnötige Handgriffe vermieden werden. Die Küchen waren deshalb äußerst funktionell, aber durchaus auch ästhetisch gestaltet. Sogar eine „Kochkiste“ gab es, in die vorgegarte Speisen geschoben werden konnten, wo sie weiter garkochten während die Frauen ihrer Berufsarbeit nachgingen – an eine eventuelle Mitarbeit von Männern wurde auch bei der Gestaltung der fortschrittlichen Frankfurter Küche noch nicht gedacht.

Im 2. Weltkrieg wurden Teile der Siedlung Römerstadt beschädigt, und später wurde manches von den Bewohnern verändert (nicht immer im Sinne des ursprünglichen Baukonzeptes), aber noch heute können Besucher nachempfinden, wie innovativ diese Art zu bauen in den 20er Jahren auf ihre Betrachter, auch auf Harry Graf Kessler und seine Freunde, gewirkt haben muss. Eines der Häuser in der Straße im Burgfeld wurde in den Jahren 2005 bis 2009 von der Ernst-May-Gesellschaft e. V. zum Museum umgestaltet.


Adresse des May-Hauses: ernst-may-haus, Im Burgfeld 136, 60439 Frankfurt

Öffnungszeiten: Dienstag bis Donnerstag 11 bis 16 Uhr, Samstag und Sonntag 12 bis 17 Uhr (Stand: Juni 2016)





*****

Bildquellen:

Vorschaubild, Römerstadt. Komplette Siedlung angelegt von Ernst May. Rundling mit Wohnungen und einigen Geschäften im Erdgeschoss. Bild zeigt südliches Ende mit der einzigen bei Errichtung der Siedlung konzipierten Gaststätte. Fotografiert von der Brücke über die Schnellstraße zur Nordweststadt. Ende des Rundling, Römerstadt. Urheber: Peng via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Lage- und Gartengestaltungsplan der Siedlung Frankfurt-Heddernheim, Ende 1920er Jahre, von Leberecht Migge, gemeinfrei

Siedlung Römerweg. Urheber: Christos Vittoratos via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Gebäude in der Siedlung Römerweg. Urheber: Christos Vittoratos via Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

Textquellen:

Harry Graf Kessler. Das Tagebuch. Neunter Band 1926-1937. Hrsg. von Sabine Gruber und Ulrich Ott, unter Mitarbeit von Christoph Hilse und Nadin Weiß. Stuttgart 2010 (einführendes Zitat)

Ernst May und das Neue Frankfurt 1925-1930. 13. Dezember 1986 bis 15. Februar 1987. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main. Berlin 1986 (darin die Beiträge: Walter Prigge: Verflechtung, S. 14-19; DW Dreysse: Wohnung, Haus usw. Zur Architektur des Wohnens, S. 72-76; Lore Kramer: Rationalisierung des Haushaltes und Frauenfrage – Die Frankfurter Küche und zeitgenössische Kritik, S. 77-84; Biographie Ernst May, S. 159)

http://ernst-may-gesellschaft.de/home.html aufgerufen am 26.06.2016

Weitere Beiträge dieser Rubrik

Die Töngesgasse
von Sabine Gruber
MEHR
Die Bonifatiusquelle
von Sabine Gruber
MEHR

Die Siedlung Römerstadt


60439 Frankfurt am Main

Detailansicht / Route planen

Werbung
Unsere Website benutzt Cookies. Durch die weitere Nutzung unserer Inhalte stimmen Sie der Verwendung zu. Akzeptieren Weitere Informationen