Die S-Bahn-Trasse nach Frankfurt ist für Sindlingen prägend. Nicht nur deshalb, weil sie den 12 km im Südwesten des Stadtzentrums gelegenen Stadtteil über die Linie S 1 mit diesem verbindet, sondern auch weil sie ihn in zwei Teile teilt. Nördlich der Trasse liegt zunächst die sogenannte Gartenstadt, die ein Teil der Ferdinand-Hofmann-Siedlung ist. Sie besteht aus in den 1920er Jahren gebauten, meist zweistöckigen Häusern im neoklassizistischen Stil mit überwiegend großen Gärten. Zentraler Platz ist der an der S-Bahn-Haltestelle Sindlingen gelegene Richard-Weidlich-Platz. Der Siedlungsteil war ursprünglich eine Arbeitersiedlung für die Arbeiter der nahegelegenen Höchst-Werke. Am östlichen Teil des Richard-Weidlich-Platzes befindet sich das Haus Sindlingen, das 1961 im Stil des Brutalismus als Bürgerhaus für Sindlingen errichtet wurde. 1973/74 erlangte es bundesweite Aufmerksamkeit, als hier ein Gerichtsverfahren gegen Astrid Proll und weitere Mitglieder der RAF stattfand. Die Ferdinand-Hofmann-Siedlung wurde in den 1950er Jahren erweitert. Die Häuser des Erweiterungsteils sind höher - häufig fünfstöckig. Auch diesem Siedlungsteil kommt architektonisches Interesse zu.
Der historische
Teil Sindlingens - und Sindlingens Geschichte ist lang, sie reicht ins 8. Jahrhundert
zurück - befindet sich südlich der Bahnstrecke. Auf der Südseite des S-Bahnhofs
Sindlingen gelangt man über die Sindlinger Bahnstraße in diesen Ortsteil,
vorbei an der evangelischen Kirche aus dem Jahre 1907. Die Gassen der Altstadt,
in denen sich zahlreiche Fachwerkhäuser befinden - z. B. in der
Huthmacherstraße, darunter der Zehnthof mit einem davorstehenden historischen
Kruzifix - liegen zwischen der Farbenstraße und dem Main. In der
Huthmacherstraße befindet sich auch die als Kulturdenkmal eingestufte, 1827
fertiggestellte katholische Kirche St. Dionysius, eine dreischiffige Basilika,
der Nachfolgebau einer bereits 1609 an diesem Ort errichteten Kirche. Auf einer
Erhebung am Main, außerhalb des alten Ortskerns, befindet sich die 1902 im
neobarocken Stil im Auftrag von Herbert von Meister, einem Sohn von Wilhelm
Meister, der einer der Mitbegründer der Höchst-Werke war, errichtete Villa
Meister. Die Villa, die lange Jahre verschiedenen gemeinnützigen Zwecken
diente, ist nicht nur für sich genommen als Baudenkmal sehenswert, sondern
darüber hinaus von einem schönen Park umgeben, der nach einer testamentarischen
Verfügung aus dem Jahre 1982 der Öffentlichkeit frei zugänglich sein soll.
Nachdem die Villa samt Park 2019 an einen privaten Wohnungsbauinvestor verkauft
wurde, ist derzeit (Stand Juni 2020) nicht nur die künftige Zugänglichkeit des
Parks unklar, sondern es ist auch zu befürchten, dass durch Wohnbauten sein
Erscheinungsbild beeinträchtigt werden könnte. Durch zwei Brücken, die
Werksbrücke West und die Sindlinger Mainbrücke, die beide in den 70er Jahren
errichtet wurden, ist Sindlingen mit dem auf der anderen Seite des Mains
liegenden Kelsterbach verbunden. Sehenswert ist auch der Friedhof Sindlingen
mit einigen interessanten Grabdenkmälern aus den 10er und 20er Jahren des 20.
Jahrhunderts.
Im Alten Ortskern
lassen sich die dörflichen Ursprünge Sindlingens unmittelbar nachempfinden. Der
Ortsname lässt sich wohl darauf zurückführen, dass jemand namens Sundilo den
Ort gegründet hat oder hier mit seiner Familie gewohnt hat. Die Schreibung
"Sindlingen" hat sich erst im 19. Jahrhundert vollkommen
durchgesetzt; vorher gab es Namensformen wie Sundilingen oder Sunlingen. Das
ehemals recht kleine Dorf war während seiner Geschichte verschiedenen Unglücken
ausgesetzt. So wurde es im Dreißigjährigen Krieg verheert, im Spanischen
Erbfolgekrieg vernichteten französische Truppen Ende des 17. Jahrhunderts die
gesamte Ernte und 1699 brannte ein Großteil des Dorfes bei einem Großfeuer ab.
1784 wurden durch ein Hochwasser 11 Häuser zerstört. In den Revolutionskriegen
kam es 1799 zu Kämpfen zwischen französischen und kurmainzischen Truppen.
Sindlingen gehörte lange Zeit zum Erzbistum Mainz, seit dem frühen 19.
Jahrhundert zu Nassau.
Die dörfliche Tradition, die trotz der genannten Unglücksfälle - die in der Vormoderne und frühen Moderne so ungewöhnlich nicht waren - bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein ungebrochen war, fand ab 1863 eine Ergänzung durch die Begründung der Chemischen Fabrik Meister, Lucius & Co im benachbarten Höchst, die später unter der Bezeichnung "Farbwerke Höchst" weltweite Bedeutung erlangte. Dadurch wurde Sindlingen als Wohnort für Arbeiter interessant und die Bevölkerungsstruktur veränderte sich. 1885 waren bereits 30% der erwerbstätigen Bevölkerung Sindlingens Fabrikarbeiter. Wie bedeutend der Einfluss der Höchst-Werke (die heute nicht mehr so heißen) für Sindlingen ist, lässt sich u. a. daran ablesen, dass sich das Westtor des Industrieparks Höchst unmittelbar an der S-Bahn-Station Sindlingen und damit in zentraler Lage im Ortsteil befindet. Und auch die bereits genannte Werksbrücke West hat ihren Namen nicht umsonst, sondern wurde nach ihrer Funktion benannt, die v. a. darin besteht, den werksinternen LKW-Verkehr abzuwickeln.
1917 verlor Sindlingen dann seine Unabhängigkeit, auf dem Wege der Eingemeindung - nicht etwa nach Frankfurt, sondern nach Höchst. Zu Frankfurt kam Sindlingen erst 1928, als Höchst nach Frankfurt eingemeindet wurde. Als die Hoechst-AG in den 50er Jahren das Werksgelände für den öffentlichen Verkehr schloss, wurde eine Umgehungsstraße nötig, die Hoechster-Farben-Straße, die die Mainzer Landstraße (Farbenstraße), die traditionelle Hauptverkehrsstraße von Sindlingen nach Höchst und darüber hinaus, ablöste. Der Ruhe im Ortsteil kam das zugute.
Wer länger in Frankfurt ist, und über auf den ersten Blick Sichtbares hinaus der Vergangenheit nachspüren möchte, die in den eingemeindeten Randorten der Stadt vielfach authentischer nachzuvollziehen ist, als im kriegszerstörten und nur partiell wiederaufgebauten Stadtzentrum, der ist in Sindlingen gut aufgehoben. Die Kombination von Dorf und Stadt, von ehemals ländlicher Umgebung und moderner Wirtschaftsaktivität, von alteingesessener Bevölkerung und zugezogenen Mitbürgern, vielfach mit Migrationshintergrund, ist für Frankfurt nicht ganz untypisch, hier aber deutlicher zu sehen als anderswo.
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Textquellen:
Homepage von Sindlingen: abgerufen von > https://sindlingen.de/ < am 28.06.2020.
Sindlingen auf Frankfurt.de: abgerufen von > https://frankfurt.de/frankfurt-entdecken-und-erleben/stadtportrait/stadtteile/sindlingen< am 28.06.2020.
Bericht über Sindlingen in der Frankfurter Rundschau: abgerufen von > https://www.fr.de/frankfurt/sindlingen-ort904345/industrie-praegt-sindlingen-11011504.html < am 28.06.2020.
Bericht über Sindlingen in Focus: abgerufen von > https://www.focus.de/regional/hessen/frankfurt-am-main-in-sindlingen-wird-toleranz-gelebt_id_10118096.html < am 28.06.2020.
Bericht über Sindlingen in der Frankfurter Neuen Presse: > https://www.fnp.de/frankfurt/sindlingen-tief-westen-10395366.html < am 28.06.2020.
Bildquellen:
Vorschaubild: Richard-Weidlich-Platz, 2006, Urheber: via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.
Werksbrücke West, 2006, Urheber: Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0. via
Sindlingen, Huthmacherstraße 15, Zehnthof und Kreuz, 2019, Urheber: Wikimedia Commons via CC0.
Katholische Kirche St. Dionysius in Frankfurt-Sindlingen, 2014, Urheber: Gaki64 via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0.
Hoechst AG Hauptkontor 1893,Urheber: unbekannt; Quelle: R. Schäfer, Chronik von Höchst am Main, Seite 178 via Wikimedia Commons Gemeinfrei.