„Gewöhnlich hielten wir uns in allen unsern Freistunden zur Großmutter, in deren geräumigem Wohnzimmer wir hinlänglich Platz zu unsern Spielen fanden. Sie wußte uns mit allerlei Kleinigkeiten zu beschäftigen und mit allerlei guten Bissen zu erquicken. An einem Weihnachtsabende jedoch setzte sie allen ihren Wohltaten die Krone auf, indem sie uns ein Puppenspiel vorstellen ließ und so in dem alten Hause eine neue Welt erschuf."
Goethes Schwester, die neben ihm als Einzige der ursprünglich sechs Nachkommen das Kindesalter überlebte, wurde gemeinsam mit ihrem Bruder vom Vater persönlich sowie einigen Hauslehrern unterrichtet. Zu Cornelia hatte Johann Wolfgang eine enge Bindung. Noch als Erwachsener beäugte er ihre Ehe mit Johann Georg Schlosser eifersüchtig. Es heißt, Goethes Figur der Iphigenie spiegele Cornelias melancholisch-strenge Charakterzüge.
Der Vater war ein leidenschaftlicher Sammler, der eine Vielzahl an Naturalien und Kunstwerken besaß. Besonders Italien hatte es ihm angetan. Oft muss der Blick des Jungen über die prächtigen italienischen Stiche gegangen sein, die Vater Goethe daheim aufbewahrte. Später sollte Johann Wolfgang das südliche Sehnsuchtsland selbst erkunden und seine Impressionen in seiner Italienischen Reise ihren Niederschlag finden. Die für damalige Verhältnisse umfangreiche Privatbibliothek des Vaters diente nicht nur zur Unterrichtung seines Nachwuchses, sondern auch zum privaten Lesevergnügen. Der bildungshungrige Sohn war daher oft mit einem Buch anzutreffen.
Die Eltern waren fromme lutherische Christen, die regelmäßig am kirchlichen Leben teilnahmen. Früh war Johann Wolfgang an Kirchgänge, Gesangbuch und Bibel gewöhnt. Die Inhalte der Heiligen Schrift gehörten neben den Gutenachtgeschichten der Mutter zu den vertrautesten Erzählungen seiner Kindheit. Goethes Glaube wurde jedoch beizeiten nachhaltig erschüttert. Als sich 1755 das Erdbeben von Lissabon ereignete und massive Verwüstungen und unzählige Tote hinterließ, hatte dies heftige Auswirkungen auf die Weltbilder vieler Gelehrter rund um den Globus. Erste Zweifel bezüglich der Güte Gottes und dessen Gerechtigkeit trafen damals auch das Kind im entfernten Frankfurt. In Zukunft sollte sich Goethes kritische Auseinandersetzung mit der Religion manifestieren.
In den von ihm im Verlauf seiner Weimarer Schaffensperiode verfassten Epigrammen, den „Xenien", gibt Goethe an, sein poetisches Talent von der Mutter zu haben. Diese sei nicht wie der Vater eine ernste Führerfigur, sondern eine „Frohnatur" mit der „Lust zu fabulieren." So ereignete es sich, dass Goethe schon als kleiner Junge seine Dichtkunst erproben wollte und zum Jahreswechsel Glückwünsche in Versform für die Großmutter verfasste. Bald folgten unter dem Eindruck von Klopstocks „Messias" eigene religiöse Dichtungen und Dramenversuche.
Während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763), als die Franzosen zeitweilig Frankfurt besetzten, quartierte man im Hause Goethe den ranghöchsten französischen Offizier ein. Sehr zum Unwillen des Vaters, der preußischer Sympathisant war. Doch für Johann Wolfgang wurde Graf Fran?ois de Thoranc bald zum intellektuellen Vorbild. In dessen Tross reiste auch eine Schauspielgruppe mit, die es dem Jungen angetan hatte. Von ihr lernte er erstmals die großen französischen Tragödien und Komödien von Racine und Molière kennen.
Mit 16 Jahren verließ Johann Wolfgang Goethe Frankfurt am Main, um in Leipzig das Jurastudium zu beginnen. Hier nahm sein Weg zum geschätzten Dichter seinen Anfang.
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Quelle:
• http://gutenberg.spiegel.de/buch/7130/3
Bildquellen:
Goethe im Alter von 16 Jahren, gemeinfrei
Die Familie Goethe, Gemälde von Johann Conrad Seekatz (1719-1768) im Jahre 1762, gemeinfrei