Die alten Frankfurter Bürgerhäuser wiesen einige Besonderheiten auf, die heute kaum noch bekannt sind und auch an den wenigen noch erhaltenen oder rekonstruierten Häusern nicht mehr zu sehen sind. Eine dieser Besonderheiten ist das so genannte „Geräms“. Hätte nicht Goethe ihn verewigt, wäre dieser Anbau an Frankfurter (und wohl auch anderen oberdeutschen) Bürgerhäusern inzwischen vielleicht ganz in Vergessenheit geraten.
Das Wort ‚Geräms‘, das noch in mehreren anderen Schreibungen überliefert ist, geht wie auch das neuhochdeutsche „Rahmen“ auf das mittelhochdeutsche ‚ram‘ (Stütze, Gestell) zurück. In Texten wird der Begriff in verschiedenen Bedeutungen überliefert, von denen das „Deutsche Wörterbuch“ der Brüder Grimm folgende auflistet und mit Belegen versieht: „gitterwerk aus holz oder eisen […] im und am hause […] im kloster […] in der kirche die schranke, welche altar und chor vom schiff, bisweilen auch den ober- vom unterchor trennt […] als einfassung der treppe u. s. w., geländer […] als verschlusz des gefängnisses, thürgitter […] fenstergitter […] bodengitter in eigenartigen pferdeställen […] im wasserbau […] gitterwerk in teppichmustern […] gitterwerk in gestalt eines vogelkäfigs […]“. Außerhalb der Grundbedeutung „Gitter“ nennt das „Deutsche Wörterbuch“ noch „rahmenwerk, gestell“ und – ein ganzes Stück von diesen beiden Bedeutungen abweichend – „knochengerüste, skelett“.
Was die Frankfurter Bürgerhäuser betrifft, gilt also die Bedeutung „gitterwerk aus holz oder eisen“. Was Goethes Darstellung des Gerämses betrifft, aber durchaus auch die Bedeutung „gitterwerk in gestalt eines vogelkäfigs“. Aber der Reihe nach: Das Geräms war ein Vorbau mit hölzernem Gitter, über den vor allem die Häuser wohlhabender Familien, wie das der Familie Goethe verfügten. Obwohl in diesem Zusammenhang meistens Goethes Erwähnung des Gerämses im Ersten Buch von „Dichtung und Wahrheit“ zitiert wird, sollen an dieser Stelle wegen ihrer größeren Genauigkeit und Anschaulichkeit Goethes Bemerkungen über diese bauliche Besonderheit in einem Brief an Carl Friedrich Reinhard (1761-1837) vom 13. Februar 1812 auszugsweise zitiert werden: „Was das „Geräms“ betrifft, wonach Sie fragen, so kann man, wie Sie schon vermuthen, sich den Ursprung desselben am ersten denken, wenn man sich vorstellt, wie zur Sommerszeit Bürgersleute Stühle und Bänke vor ihre Häuser setzten, wo sie unter den weit vorspringenden Ueberhängen der oberen Stockwerke sogar bei einem mäßigen Regen ruhig sitzen konnten. Hatte man so durch gedachte Ueberhänge und durch das oben vorspringende Dach schon in die Rechte der Straße gleichsam Eingriff gethan, so lag es, besonders in weniger polizeilichen Zeiten, ganz nahe, sich einen hölzernen Käfig herauszubauen, um nicht den Augen jedes Vorübergehenden ausgesetzt zu seyn. Dieses Geräms war wirklich meistenteils oben offen, weil es von jenen Überhängen genugsam bedeckt war. Es hing durch eine besondere Thüre mit dem Hausflur zusammen, welche Nachts ebenso sorgfältig als die Hausthür selbst verschlossen wurde.“
Das Geräms verband die meistens von der Straße abgewandten Bürgerhäuser, deren Wohnstuben sich eher im hinteren, dem Privatgarten zugewandten Teil des Hauses befanden und deren Wirtschaftsräume, wie auch im Goethehaus die Küche, an der Straße lagen, mit der Straße. Einerseits ermöglichte dieser kleine, vergitterte Vorbau – wie auch von Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ beschrieben –, aus der oft verrauchten und stickigen Küche heraus zu gehen, um etwas Luft zu schnappen und beispielsweise Gemüse für das Kochen zu zerkleinern, andererseits aber auch, neugierigen Bürgerkindern wie dem jungen Goethe, sich das lebhafte Treiben auf der Straße anzusehen, während es im Privatgarten der Familie vielleicht eher langweilig zuging. Auch die Frauen des Hauses nutzten das Geräms, um dort Handarbeiten anzufertigen.
Da die Bemerkungen Goethes über das Geräms ganz klar machen, dass es ein Vorbau vor den Bürgerhäusern war, in dem man sich aufhalten, den man betreten konnte, auch wenn dessen Fläche wohl nur wenige Quadratmeter umfasste, ist es umso merkwürdiger, dass bereits wenige Jahrzehnte nach Goethes Tod der Schriftsteller und Journalist Franz von Dingelstedt (1814-1881) annehmen konnte, bei dem Geräms handele es sich um die geschwungenen Fenstergitter im Erdgeschoss, die die alten Frankfurter Bürgerhäuser ebenfalls hatten, wenn er in „Eine Faust-Trilogie“ schrieb „Durch das Geräms – so heißt das Gitterwerk, welche in behäbigen Bürgerhäusern der alten Zeit die Fenster des Erdgeschosses, halb zum Schmuck, halb zum Schutz, in weitgeschweiftem Bogen einrahmt, – taucht mir Wölfchens Lockenkopf auf […]“. Dort tauchte sicher hin und wieder auch der Kopf des jungen Goethe auf. Es war aber nicht das Geräms. Vermutlich war diese bauliche Eigenheit bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten und bei vielen Häusern zurückgebaut worden.
Das Geräms der Frankfurter Bürgerhäuser wird heute zwar vor allem mit dem Elternhaus Goethes verbunden, es finden sich aber auch hinsichtlich anderer Häuser Hinweise auf diesen etwas ungewöhnlichen und luftigen Vorbau. So etwa in einer Urkunde aus dem Jahr 1720, die im Frankfurter Institut für Stadtgeschichte aufbewahrt wird, und in der dem Handelsmann Jakob Balde gestattet wird, „an sein in der Saalgasse gelegenes Haus Zum Brüssel […] ein hölzernes Geräms setzen zu lassen.“
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Textquellen:
Briefwechsel zwischen Goethe und Reinhard in den Jahren 1807 bis 1832, Stuttgart und Tübingen, 1850.
Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Lfg. 8 (1891), Bd. IV,I,II (1897), Sp. 3561, Z. 52.
Eine Faust-Trilogie: Dramaturgische Studie von Franz Dingelstedt, II in: Deutsche Rundschau. Zweiter Jahrgang, Heft 9, Juni 1876, S. 383-399.
Frankfurt-Lexikon, Mit einem Stadtplan herausgegeben von Waldemar Kramer, Sechste, neubearbeitete Ausgabe. Frankfurt a. M., 1973.
„gerams“ in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Erstbearbeitung (1854–1960), digitalisierte Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, >https://www.dwds.de/wb/dwb/ger%C3%A4ms< abgerufen am 22.04.2025.
Volger, Otto: Goethe’s Vaterhaus: Ein Beitrag zu des Dichters Entwicklungsgeschichte, Frankfurt a. M., 1863.
>https://de.wikipedia.org/wiki/Ger%C3%A4ms< abgerufen am 22.04.2025.
>https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/showArchivalDescriptionDetails?archivalDescriptionId=10692311< abgerufen am 22.04.2025.
Bildquellen:
Vorschaubild: Frankfurt, Goethehaus vor 1755, Urheber: Ernst Metz via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.