Heiratszwang
Karl Wilhelm Ferdinand Enslin
Karl Wilhelm Ferdinand Enslin (1819-1875) fasste zunächst den Plan, historische Aufsätze über seine Heimatstadt Frankfurt zusammenzutragen und zu verfassen, die sich an ein größeres Publikum richten, die historischen Gegebenheiten bekannt machen und Liebe zu seiner Vaterstadt hervorrufen sollten. Bald aber entwickelte sich das Buch durch Recherchen und Sammeltätigkeit zu einer Sammlung von hauptsächlich Sagen, Bräuchen und geschichtlichen Ereignissen. Enslin beschloss ein Frankfurter Sagenbuch herauszugeben, das es bisher noch nicht gab. Er bediente sich verschiedener Quellen, hauptsächlich Sagensammlungen, auch der der Brüder Grimm, und Geschichtsbüchern über Frankfurt, die er bearbeitete.
Anna Hein
Heiratszwang
Eine ganz andere Zivilehe, als heutzutage, war im Mittelalter in Frankfurt und andern Wetterauischen Städten (Wetzlar, Friedberg, Gelnhausen) bräuchlich. Wenn ein Dienstmann des Königs eine Jungfrau sah, die ihm gefiel, so wandte er sich nicht allenfalls an sie selbst, um zu erfahren, ob er auch ihr gefalle - auch nicht an ihre Eltern, ob diese mit seiner Wahl einverstanden seien; sondern er wandte sich an seinen Herrn, den König und erbat sich von diesem jene Jungfrau zum Weibe. Und der König wird wohl selten dieser Bitte entgegen gewesen sein.
Darauf erschien vor dem Hause der Jungfrau ein Marschall als Freiwerber im Namen des Königs und that sein Begehren in Reimen kund.
„Höret zu, ihr Herren überall,
Was gebeut der Herr und Marschall;
Was er gebeut und das mu&szliszlig; sein:
Hier ruf' ich aus - (Name der Verlobten) mit - (Name des Verlobten)
Heute zur Ehen,
Morgen zum Lehen,
Ueber ein Jahr
Zu einem Paar!"
Und damit war die Ehe so gut, wie geschlossen, die Braut und ihre Eltern mochten wollen oder nicht.
Die Abschaffung dieses barbarischen Gebrauchs ist dem Muthe eines Frankfurters zu danken, dem Schöffen Johannes von Goldstein.
Dessen schöne Tochter erblickte ein Höfling des Königs Heinrich (Sohn Kaiser Friedrichs II.) und verliebte sich sterblich und unsterblich - entweder in sie selbst oder in das Geld ihres reichen Vaters. Aber er merkte bald, daß er auf dem Weg der Liebe sein Ziel nicht erreiche und betrat deshalb den Weg der Gewalt: er begehrte vom König jenes Fräulein von Goldstein zur Ehe. Dessen Vater jedoch kam auch zum König und klagte diesem sein Leid. Und der König hatte Einsehen genug, des Vaters verständige „Motive" zu billigen und zu verfügen, daß aus gedachter Heirath Nichts werde.
Sodann stellte er aber auch gänzlich jenen schlimmen Brauch ab durch eine Verbriefung - obgleich er sich eine Hinterthür offen behielt, nämlich das Recht der Fürbitte.
So geschehen zu Nürnberg im Jahre des Heils 1232.
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Text: Karl Enslin: Frankfurter Sagenbuch. Sagen und sagenhafte Geschichten aus Frankfurt am Main. Neue Ausgabe. Frankfurt a. M., H. L. Brönner 1861, S. 22 ff.
Bild: Matthäus Merians Vogelschauplan von Frankfurt am Main (1628): Frankfurt am Main: Ausschnitt des Merian-Plans mit der Leonhardskirche und dem Leonhardsturm. gemeinfrei, wikipedia
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