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"Hoch im Norden der Erdkugel gab es noch viele Eisberge. Einer von ihnen funkelte in der Sonne wie ein gewaltiger Diamant. Die Götter baten die Urkuh Audhumbla, diesen Eisberg abzulecken. Audhumbla erfüllte ihren Wunsch und befreite ein stattliches Einhorn aus der Eismasse..."

Der bucklige Geiger

Karl Wilhelm Ferdinand Enslin

Karl Wilhelm Ferdinand Enslin (1819-1875) fasste zunächst den Plan, historische Aufsätze über seine Heimatstadt Frankfurt zusammenzutragen und zu verfassen, die sich an ein größeres Publikum richten, die historischen Gegebenheiten bekannt machen und Liebe zu seiner Vaterstadt hervorrufen sollten. Bald aber entwickelte sich das Buch durch Recherchen und Sammeltätigkeit zu einer Sammlung von hauptsächlich Sagen. Enslin beschloss, ein Frankfurter Sagenbuch herauszugeben, das es bisher noch nicht gab. Er bediente sich verschiedener Quellen, hauptsächlich Sagensammlungen ( auch der Sammlung der Brüder Grimm) und Geschichtsbüchern über Frankfurt, die er bearbeitete.
Anna Hein
 

 

Der bucklige Geiger

 

Es war einmal ein Geiger zu Frankfurt am Main, der war bucklig. Aber fiedeln konnt er, wie kein Anderer; und wenn die Leute tanzen wollten, so mußt´ allemal das bucklige Geigerlein herbei und mußt´ aufspielen.
So bekam der Geiger gar viel hübsche Jungfräulein zu sehen, und er hätt´ oft lieber getanzt, als gegeigt, und hätt´ lieber geheirathet, als daß er ledig blieb. Aber keines der hübschen Jungfräulein, das er haben wollte, wollt´ ihn haben – weil er bucklig war.
Darüber ward er denn sehr traurig und betrübt, und um lustig zu werden und besser geigen zu können, trank er manch Schöpplein über den Durst.
So kam er einmal lustig aus lustiger Gesellschaft, der er vorgegeigt und die ihm vollauf zu trinken gegeben hatte. Er wollte nun sein Räuschlein nach Hause schleppen und sich in sein einsames Bettlein legen. Wollte ja doch Niemand bei ihm liegen, als sein Buckel.
Es war Mondschein und gar hübsches Wetter; denn es war die erste Mainacht. Das Geigerlein hatte in allerlei zierlichen Schlangenwindungen mehrere stille Straßen durchwandert und kam nun auf den Markt. Da aber fand er auf einmal die schönste Gesellschaft bei offener Tafel. Viel wunderhübsche Frauen schmausten daselbst und ließen sich´s wohl sein. Der Geiger blieb verwundert stehen und sah dem Treiben zu. Da ward er plötzlich sanft, aber unwiderstehlich angefaßt und in den Kreis der schönen Frauen gezogen. Sie boten ihm zu essen an; aber er wollte Nichts. Da boten sie ihm zu trinken an; das nahm er. Es war aber ein Zaubertränklein. Und er ward noch lustiger, als vorher. Da sagten die hübschen Frauen, sie wollten tanzen, und er solle aufspielen; es müsse aber ein feines Tänzlein sein; denn es sei Walpurgisnacht. Und wenn er gut spiele, solle er auch gut belohnt werden. Da spielte das Geigerlein seine lustigsten Tänze; und die feinen Weiblein tanzten im Mondschein - und war das Alles gar wunderbarlich anzusehen.
So ging es fort, bis der Morgen graute. Da waren die Tänzerinnen und der Geiger müde des nächtlichen Reigens, und es war noch übrig, den Geigerlohn zu zahlen.
Da trat eine der schönsten Frauen zu dem Fiedler heran und sprach: „Geld haben wir nicht; ich will dir aber Etwas nehmen, was dir noch Niemand genommen!"
Der Geiger dachte, sie meine einen Kuß, sprach schnell: „Geben ist seliger, als nehmen!" und wollte ihr um den Hals fassen.
Da fühlte er unter seinem Kleid eine feuchte Hand über seinen Rücken fahren; und in die Ohren raunte ihm eine Stimme: „Geh´ hin, du schlanker Gesell - jetzt kannst du tanzen und heirathen!"
Damit war der ganze nächtliche Spuk verschwunden.
Und als der Geiger am Morgen im einsamen Bett erwachte, hatte er keinen Buckel mehr.
Und nach einigen Monaten bezog er eine Wohnung, worin sich zwei Betten befanden.
Und in der nächsten Walpurgisnacht dachte er schon an das dritte, klein und fein.
Das ist die Geschichte vom buckligen Geigerlein, wie sie sich zugetragen zu Frankfurt am Main. 

 

 

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Textquelle: Karl Enslin: Frankfurter Sagenbuch. Sagen und sagenhafte Geschichten aus Frankfurt am Main. Neue Ausgabe. Frankfurt a. M., H. L. Brönner 1861, S. 120-122.

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