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Rundhütchen

Rundhütchen

Karl Wilhelm Ferdinand Enslin

Karl Wilhelm Ferdinand Enslin (1819-1875) fasste zunächst den Plan, historische Aufsätze über seine Heimatstadt Frankfurt zusammenzutragen und zu verfassen, die sich an ein größeres Publikum richten, die historischen Gegebenheiten bekannt machen und Liebe zu seiner Vaterstadt hervorrufen sollten. Bald aber entwickelte sich das Buch durch Recherchen und Sammeltätigkeit zu einer Sammlung von hauptsächlich Sagen. Enslin beschloss ein Frankfurter Sagenbuch herauszugeben, das es bisher noch nicht gab. Er bediente sich verschiedener Quellen, hauptsächlich Sagensammlungen, auch der der Brüder Grimm, und Geschichtsbüchern über Frankfurt, die er bearbeitete.
Anna Hein
 
 

Rundhütchen

„Ich bin ein Geist und geh´ herum
Und heiß´ mit Namen: Hütchen;
Wer früh aufsteht und fleißig ist,
Bekommt von mir ein Gütchen!"
Kopisch


Die Mainebene bei Frankfurt war vor alten Zeiten wilde Waldgegend, in der Wölfe nebst Verwandtschaft sich lustirten und auch wohl den einzeln stehenden Hütten ihren schreckhaften Gastbesuch abstatteten.
Da wo jetzt das schöne Dorf Niederrad steht, waren auch erst einige ärmliche Hütten zu sehen, in denen aber gar zufriedene und genügsame Leute wohnten. In diese ersten Niederräder Behausungen kam gar oft ein kleines Männlein zum Besuch, das sich sehr zutraulich und zuthätig erwies gegen Groß und Klein, gern mit den Kindern spielte und ihnen kleine Geschenke brachte, Blumen, Beeren, Nüsse.
Allemal, wenn das Männlein kam, war´s, als kehre ganz besonderer Frieden und Segen in den stillen Hütten ein, wesegen auch die Leute ganz besondere Achtung, ja, Ehrfurcht und Liebe gegen den geheimnisvollen kleinen Wanderer bezeugten. Von den Kindern, die dem Männlein ganz absonderlich gut waren, erhielt es bald, wegen seines grauen runden Hütchens, das es nie abthat, den Namen Rundhütchen.
Und als die Kinder selbst Eltern, und die Eltern Großeltern, und die Großeltern Urgroßeltern waren, kam Rundhütchen immer noch fort in derselben Gestalt, unverändert und ungealtert, und beging in hundert Jahren manches Geburtsfest und manche Begräbnisfeier in dem Walddorfe, dessen guter Geist es war.
Ein junger Ansiedler hatte sich kaum mit seinem Weibchen häuslich eingerichtet, als das Glück schon zu scheitern drohte, indem die junge Frau krank wurde und schon dem Tode nahe war. Da erschien Rundhütchen zu Besuch, hatte bald ein Tränklein gebraut aus stärkenden, heilsamen Kräutern, das die Kranke mit Vertrauen einnahm - in einen tiefen Schlaf verfiel und frisch und gesund am Morgen erwachte.
Der arme blinde Tobias hütete seine Kuh; die aber ging ihm durch und rannte in den Wald. Tobias mußte allein heimkehren und beklagte bitterlich seine verlorne Ernährerin. Als er aber nach seinem Stalle ging, brüllte ihm die Verlorne freudig entgegen, und es kam ihm zugleich vor, als schlüpfe Rundhütchen zur Fensteröffnung hinaus.
Die Mutter Hanne saß in tiefster Bedrübnis in der Abenddämmerung; denn ihr Töchterchen, ihr einziges Kind, war in den Wald gegangen, um Maiblümchen zu suchen, war aber nicht mehr zurückgekommen. Mutter Hanne war endlich über dem langen Warten eingeschlafen. Und als sie erwachte, war es Morgen, und ihr Kind lag, lächelnd im Schlummer, in seinem Bettchen. Als Mutter hanne fragte, woher und wie und wann es denn gekommen sei, erzählte das Kind, es sei unter einem Baum eingeschlafen gewesen, da sei das gute Rundhütchen gekommen und habe es, fast wie im Träume, nach Hause geleitet und sei sodann wieder verschwunden.
So war Rundhütchen der rechte Ueberall und Nirgends, der Helfer in der Noth, der keinen Dank begehrt.
Aber mit den Jahren oder eigentlich Jahrhunderten ward dies Alles anders. Der Wald wurde immer mehr gelichtet, stattliche Häuser richteten sich stolz empor - und Rundhütchen kam immer seltener. Aber warum? - Nicht weil es den reichen Leuten nicht mehr hätte helfen können oder wollen - nein, sondern die Leute wollten Nichts mehr von ihm wissen, glaubten sich allein helfen zu können und glaubten auch nicht mehr, daß es um die Hülfe Rundhütchens so was Besonders sei.
Dennoch kam das Männlein immer noch fort, kehrte aber nur in den ärmsten Hütten ein und wollte namentlich Nichts wissen von den Frankfurtern, die ihre Spaziergänge nach Niederrad führten.
Da war denn einmal eine große Theuerung. Und die Frankfurter, die im Geben nicht faul sind, sorgten auch durch viele milden Gaben für die armen Niederräder. Das brachte in Rundhütchens Kopfe eine erschreckliche Verwirrung hervor. Es hatte den seinen Stadtleuten so etwas nicht zugetraut.
Als es nun dem Abgesandten von Frankfurt, der die Gaben nach Niederrad brachte, im Wäldchen begegnete, bekam es solch einen Respekt, daß es nach seiner Sitte sein rundes Hütchen höflich abzog. Damit war aber auch seine Zauberkraft verschwunden.
Der Mann mit dem Geldsäckel sah, wie Etwas, einem Knäblein gleich, durch´s Gebüsch huschte, das Hütlein, gleichsam wie zum Abschiede, schwenkte, sogleich aber verschwand.
Seit der Zeit ist Rundhütchen nie mehr gesehen worden.
Sonst wurden helfende Engel zu Menschen: jetzt werden Menschen zu helfenden Engeln. 

 

 

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Textquelle: Karl Enslin: Frankfurter Sagenbuch. Sagen und sagenhafte Geschichten aus Frankfurt am Main. Neue Ausgabe. Frankfurt a. M., H. L. Brönner 1861, S. 30 ff.

Bild: Hans Thoma: Mainlandschaft bei der Gerbermühle, 1889; gemeinfrei, wikipedia

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