Frankfurt im Jahre 1891. In der Bleichstraße 60 in der Innenstadt bezieht ein Paar eine Wohnung, das für die damalige Zeit ungewöhnlich ist. Zwei gemeinsam lebende Frauen, die beide auf ihrem Gebiet Pionierinnen sind.
Die eine, Elisabeth Hermine Winterhalter, ist Ärztin. Auf dem vielleicht bekanntesten Porträt von ihr, das heute dem Städel gehört und aus dem Jahre 1887 stammt – damals war sie, die 1856 geboren wurde, noch Studentin – sitzt sie in einem hochgeschlossenen schwarzen Kleid am Schreibtisch, ein aufgeschlagenes Buch vor sich, in der rechten Hand einen Stift über einem Blatt Papier, rechts davon, hinter einem weiteren aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegenden Band ein Bücherregal, in dem sich neben Büchern auf dem obersten Brett ein Totenschädel und ein Glasflakon befinden, zum Zeichen der Profession der Porträtierten. Die den Betrachter ansehende Frau sieht etwas androgyn aus und wirkt wie jemand, der eben noch in Studienarbeiten vertieft war, ernsthaft mit der Sache beschäftigt, bevor jemand hereinkam und sie hat aufblicken lassen. Eine Person, die beruflichen Ehrgeiz hat – einen Ehrgeiz, der nicht dem Standardrollenbild für Frauen in der damaligen Zeit entspricht.
Die andere, die das Porträt gemalt hat, und in den 50 Jahren Verbundenheit, die noch kommen sollen, etwa 30 weitere Porträts ihrer Lebensgefährtin, die sie „Hans“ nennt, malen wird, ist Ottilie Wilhelmine Roederstein, von Elisabeth Winterhalter „Tilly“ genannt, geboren 1859, die in der Hochstraße 40, in Fußentfernung von der neuen Wohnung, ihr Atelier einrichtet, in dem auch ihre Kollegin Marie Sommerhoff-Bertuch (1851-1932) arbeitet.
Nach Frankfurt gekommen sind die beiden aber wohl eher der Berufschancen Elisabeths wegen, die eine Praxis eröffnet und in einer Poliklinik für Frauenkrankheiten Sprechstunden anbietet. Sie ist eine der ersten praktizierenden Ärztinnen in Frankfurt und der Weg zu diesem Beruf war kein leichter. Das dreizehnte und jüngste Kind einer Münchner Bürgerfamilie – der Vater war Arzt – war zunächst dazu gezwungen, aufs Lehrerseminar zu gehen – die einzige Berufsmöglichkeit für intellektuell interessierte Frauen, denen mangels Zulassung zum Abitur (das erste Mädchengymnasium in Deutschland wurde erst 1893 in Karlsruhe eröffnet) ein Studium verschlossen blieb. Nach dem Tod ihres Vaters setzte sie sich gegen den Willen ihres Vormunds und ihrer Mutter durch und ging zum Medizinstudium nach Zürich, da ein Medizinstudium in der Schweiz damals für Frauen schon möglich war, freilich nicht ohne vorher die Matura, die Schweizer Hochschulreife, zu erwerben.
Ottilie W. Roederstein, Kaufmannstochter, geboren im 1893 nach Zürich eingemeindeten Enge, hatte ebenfalls familiäre Widerstände zu überwinden, um ihre Passion, die Malerei, zum Beruf machen zu können. Etwas leichter als bei ihrer Freundin ging es aber doch. Nach ersten Ausbildungsschritten in Zürich ging sie nach Berlin und dann nach Paris, wo sie schnell Anschluss fand und zwischen 1883 und 1914 – dann machte es der Erste Weltkrieg unmöglich – regelmäßig ausstellte. In den 80er Jahren pendelte sie regelmäßig zwischen Paris und Zürich, wo sie im Sommer 1885 bei einem Picknick die Medizinstudentin Elisabeth Winterhalter kennenlernte.
Das Zusammenleben zweier unverheirateter Frauen war damals zwar ungewöhnlich, letztlich aber in bürgerlichen Milieus, in denen sich existenzsichernde berufliche Möglichkeiten fanden, doch machbar – es gibt eine Reihe von Beispielen dafür. Jedenfalls nahmen Ottilie W. Roederstein und Elisabeth H. Winterhalter durchaus rege am gesellschaftlichen Leben in Frankfurt teil und engagierten sich sozial, Winterhalter im Rahmen einer von ihr gegründeten Ortsgruppe eines Frauenbildungsvereins z. B. für das erste Mädchengymnasium in Frankfurt. Roederstein avancierte zur gefragten Porträtistin, die zahlreiche einflussreiche Persönlichkeiten der Frankfurter Stadtgesellschaft malte. Im Jahre 1909 porträtierte sie den befreundeten Impressionisten Jakob Nussbaum, der umgekehrt ein Porträt von ihr schuf – beide Bilder besitzt heute das Städel. Das Städel ist dafür auch ein geeigneter Ort – hier wirkte Roederstein mit und mietete zeitweise auch zwei Ateliers. Ihr Malstil lässt sich nicht eindeutig zuordnen – Anklänge zum Impressionismus und zur Neuen Sachlichkeit finden sich ebenso wie Rückgriffe auf die Renaissance. Porträts waren ihr Hauptmetier, nicht zuletzt, weil sie davon gut leben konnte, doch malte sie auch anderes – ein überdurchschnittlich großer Teil dieser Bilder ist verloren. Auch zum Frankfurt-Cronberger Künstlerbund hatte sie Kontakt. Winterhalter, deren Abschluss aus der Schweiz nicht offiziell anerkannt wurde, holte 1904 das deutsche Staatsexamen nach. Sie war u. a. als Chirurgin und Geburtshelferin tätig.
Nachdem sie in Frankfurt zeitweise am Oeder Weg 7 und in der Unterlindau 35 gewohnt hatten, ließen Ottilie Roederstein und Elisabeth Winterhalter 1907 eine geräumige Villa im nahegelegenen Hofheim am Taunus errichten, in die sie 1909 einzogen (heute: Roedersteinweg 2), was von ihrem beträchtlichen wirtschaftlichen Erfolg zeugt. 1911 musste Winterhalter ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. In der Nazizeit zogen sich die Lebenspartnerinnen weitgehend zurück, blieben aber unbehelligt.
Beide wurden mehrfach ausgezeichnet, Roederstein u. a. mit der Ehrenplakette der Stadt Frankfurt und der Ehrenmitgliedschaft im Frankfurter Künstlerbund, beide mit der Ehrenbürgerschaft von Hofheim, die 95-jährige Elisabeth Winterhalter mit einer Ehrung durch Bundespräsident Theodor Heuss. Roederstein starb 1937, Winterhalter 1952. Sie sind in einem Ehrengrab auf dem Hofheimer Waldfriedhof bestattet, Die Werke von Ottilie W. Roederstein waren im Kunsthaus Zürich 2020/21 und im Städel in Frankfurt 2022 Gegenstand einer umfangreichen Ausstellung. Mittels des Katalogs kann man sich ein gutes Bild vom Schaffen Roedersteins machen – und darin auch Porträts sehen, die sie in verschiedenen Lebensaltern von Elisabeth Winterhalter angefertigt hat.
*****
Textquellen:
Städel Museum, Frankfurt am Main (Hrsg.), Katalog „Frei. Schaffend. Die Malerin Ottilie W. Roederstein“, Berlin: Hatje Cantz Verlag, 2020.
Karin Görner, Ottilie W. Roederstein und Elisabeth Winterhalter: Frankfurter Jahre 1891–1909, Priepke, Dagmar (Hrsg.), Heussenstamm-Stiftung, Frankfurt am Main, 2018.
Boxhammer, Ingeborg: Winterhalter, Elisabeth H. in: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe) abgerufen von >https://frankfurter-personenlexikon.de/node/1753< am 19.06.2023.
Boxhammer, Ingeborg: Roederstein, Ottilie W. in: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe) abgerufen von >https://frankfurter-personenlexikon.de/node/905< am 19.06.2023.
Seite über Elisabeth Winterhalter auf dem Blog von Bianca Walther abgerufen von >https://biancawalther.de/elisabeth-winterhalter/< am 19.06.2023.
Ottilie W. Roederstein auf frankfurterfrauenzimmer.de: abgerufen von >http://www.frankfurterfrauenzimmer.de/cp10-detail.html?bio=be< am 19.06.2023.
Bildquellen:
Vorschaubild: Elisabeth Winterhalter, Porträt von Ottilie Roederstein, 1887 via Wikimedia Commons Gemeinfrei; Ottilie W. Roederstein, Selbstbildnis mit Hut, 1904 via Wikimedia Commons Gemeinfrei; neu bearbeitet von Carolin Eberhardt.
Roederstein 1918 E H Winterhalter via Wikimedia Commons Gemeinfrei.