Am 3. April 1764 war ganz Frankfurt auf den Beinen, das Wetter war gut und auf dem Römerberg drängte sich eine Volksmenge: „Alles Volk hatte sich dem Römer zu gewendet und ein abermaliges Vivatschreien gab uns zu erkennen, daß Kaiser und König an dem Balkonfenster des großen Saales in ihrem Ornate sich abermals dem Volke zeigten.“ Kurz darauf berichtet der Beobachter: „Jedermann wußte nun, daß Kaiser und König aus dem Kabinett, wohin sie aus dem Balkon abgetreten, wieder hervorkommen und in dem großen Römersaale speisen würden. Man hatte die Anstalten dazu Tage vorher bewundern können, und mein sehnlichster Wunsch war, heute wo möglich nur einen Blick hinein zu tun.“ Und das gelang dem Beobachter dann auch, er schmuggelte sich in den Saal: „Am anderen Ende des Saals, unmittelbar an den Fenstern, saßen auf Thronstufen erhöht, unter Baldachinen, Kaiser und König in ihren Ornaten; Krone und Szepter aber lagen auf goldnen Kissen rückwärts in einiger Entfernung.“
Was hätte der noch nicht ganz 15-jährige Goethe, der Jahrzehnte später in „Dichtung und Wahrheit“ diese Szenen beschrieb, die sich anlässlich der Krönung Josephs II. zum römisch-deutschen König abgespielt hatten – Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation und Mitregent neben seiner Mutter Maria Theresia wurde der später als aufgeklärter Reformmonarch bekannt gewordene Joseph nach dem Tod seines ihn zur Königskrönung in Frankfurt begleitenden Vaters ein Jahr später – , dazu gesagt, dass sich ein anderer Monarch, der Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer, 226 Jahre später, im Juli 1990, mit seiner Weltmeister-Mannschaft ebenfalls auf einem Balkon am Römer feiern ließ? (Wenn auch nicht demselben, da er nicht mehr existierte.) Hätte er da auch versucht, hineinzukommen, um einen Blick aus der Nähe zu erhaschen?
Benannt ist der Römer natürlich nicht nach der in Rom errungenen Weltmeisterschaft, obwohl Fußball heute für manche das Maß aller Dinge ist. Wonach dann? Die Erklärung, dass er im Mittelalter einer Familie namens Römer gehört hätte, ist wohl falsch. Vermutlich wurden nämlich die Besitzer nach dem Haus benannt und nicht umgekehrt. Mit den Römern der Antike – die bei ihrer Eroberung Germaniens bis Hessen vorgestoßen waren – hat der Name auch nichts zu tun. Ebenso wenig mit den Römergläsern, die in einer hier angesiedelten Weinstube verwendet wurden. Am Wahrscheinlichsten ist, dass der Name mit der Messe zusammenhängt, die im Mittelalter auf dem Römerberg abgehalten wurde, und damit, dass italienische Kaufleute im ersten Stock des Hauses wohnten und unten ihre Waren feilboten. Ganz genau weiß man das aber nicht, meint die Historikerin Silke Wustmann, die diese Vermutungen in einem Interview auf den Internetseiten der Stadt Frankfurt wiedergibt.
Genau weiß man dagegen: 1405 wurde damit begonnen, das mittelalterliche Haus, das den Kern des Rathausensembles bildet, umzubauen und 1407 wurde es als Rathaus bezogen; von den damals errichteten Bauteilen sind heute noch einige erhalten, darunter die drei spitzbogigen Eingangsportale. Noch im 15. Jahrhundert wurden weitere Häuser dazugekauft; weitere Umbauten sicherten die Verwendbarkeit des Komplexes für die Stadtverwaltung. Und so ging es weiter: ständig neue Umbauten und Erweiterungen in den folgenden Jahrhunderten (am Ende umfasste das Ensemble 11 Häuser, für die irgendwann einheitlich der Name „Römer“ verwendet wurde), was der wachsenden Einwohnerzahl Frankfurts geschuldet war, aber auch der Tatsache, dass von 1562 an die Krönungen der römisch-deutschen Könige in Frankfurt stattfanden (die Königswahlen durch die Kurfürsten nach der Goldenen Bulle von 1356 schon vorher). Bis das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1806 ein Ende fand. Umbauten fanden aber auch danach noch statt; v.a. wurden unter der Preußenherrschaft historistische Umgestaltungen vorgenommen, wobei der Frankfurter Oberbürgermeister Adickes eine von Wilhelm II. gewünschte pompöse Fassadenneugestaltung ablehnte – der Balkon, auf dem sich die Weltmeister 1990 feiern ließen, und einige andere Änderungen wurden aber durchgesetzt.
Der Römer ist also auf das engste mit der deutschen Geschichte verbunden, leider auch mit deren weniger schönen Seiten. Am 22.3.1944 wurde der Rathauskomplex bei einem Bombenangriff von vier Sprengbomben getroffen, die dafür sorgten, dass Brandbomben das Zerstörungswerk effektiv fortsetzen konnten. Tragischerweise wurden dabei die genuin historischen Bauteile stärker beschädigt als später erfolgte historistische Anbauten. Der Römer im engeren Sinn brannte vollkommen aus und der Giebel stürzte ein. Mehrere kunsthistorisch wertvolle Säle im Inneren wurden vernichtet.
Nach dem Krieg baute man den Komplex wieder auf, nun in erster Linie als Sitz der Frankfurter Stadtverwaltung, die er seit 1407 beherbergt hatte. Dabei wurde Einiges rekonstruiert, anderes nicht. So besteht zum Beispiel der Kaisersaal, eine der größten Sehenswürdigkeiten – der Saal, in den 1764 der junge Goethe vorgedrungen war –, heute „aus einem Mix aus Mittelalter, Romantik und Wiederaufbau“ wie es die Stadt Frankfurt auf ihren Internetseiten zum Römer treffend ausdrückt. Und der historische Bürgersaal wurde gar nicht erst wiederhergestellt; heute gibt es einen modernen Plenarsaal und einen modernen Magistratssitzungssaal. Im Kaisersaal zeigt eine von 1838 bis 1853 entstandene Reihe von 52 Porträts die Kaiser und Könige des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. In der vom Kaisersaal aus gesehen jenseits des Foyers gelegenen Wandelhalle, die heute den Ort des Bürgersaals einnimmt, gibt es eine zweite Porträtgalerie: die der Oberbürgermeister Frankfurts von 1868 bis 1977 (wobei man den von 1933 bis 1945 regierenden Amtsinhaber wegließ). Dass diese Porträts größer sind, als die der Kaiser, will man in Frankfurt als Zeichen demokratischer Gesinnung verstanden wissen. Viele Frankfurter erinnern sich allerdings besser an einen Saal, der eine Etage tiefer liegt: den Trausaal, in den man durch einen Hochzeitspförtner geführt wird, dessen Amt es in keiner anderen Stadt in Deutschland gibt.
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Bildquellen:
Fotos von Carolin Eberhardt, 2021.
Bauliche Situation in der Frankfurter Altstadt im Mittelalter, Karte auf Basis des Ullrich-Plans von 1811, Straßennamen um 1370. gemeinfrei
Weihnachtsmarkt auf dem Römerberg 1876, gemeinfrei
Literatur (Webseitenangaben Stand 27.6.2016):
Zitate aus Goethes „Dichtung und Wahrheit“ aus: Goethes Werke in sechs Bänden, Frankfurt 1949 ff., Bd. 5, S. 160 f.
Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Hessen II, bearb. von Folkhard Cremer u.a., Berlin/München 2008, S. 274 ff.
Interview mit Silke Wustmann zum Namen des Römers:
https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=3828&_ffmpar%5B_id_inhalt%5D=40730
Bilder von der Weltmeisterfeier 1990
http://www.dfb.de/bildergalerien/ansicht/1990-der-empfang-der-weltmeister-in-frankfurt-668/
Auf den offiziellen Seiten der Stadt Frankfurt zum Römer findet man auch Panoramabilder der Säle:
https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=3828&_ffmpar[_id_inhalt]=54608