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Die Schlimme Mauer

Die Schlimme Mauer

Sabine Gruber

Viele Städte haben Orte, die mit einem Hauch des Geheimnisvollen und Unheimlichen umgeben sind, Orte, vor denen man sich gruselt, die man lieber meidet, die aber gleichzeitig auch anziehend wirken, die die Phantasie anregen und daran anknüpfende Märchen, Sagen und Erzählungen entstehen lassen. Im alten Frankfurt war die Schlimme Mauer in der heutigen Stiftstraße in der Innenstadt ein solcher Ort. Es gibt sie schon lange nicht mehr und es hat sie so, wie die Geschichten von ihr erzählen, auch nie gegeben, aber dennoch können selbst manche heutigen Frankfurter noch etwas mit dem nicht mehr vorhandenen Bauwerk verbinden. Karl Enslin drückt in seinem "Frankfurter Sagenbuch" den Reiz der "Schlimmen Mauer" für phantasiebegabte Frankfurter und Frankfurterinnen so aus: "Der poetische Reiz, der an manchen geheimnißvoll sagenhaften Namen aus älteren Zeiten haftet, löst sich bei genauerer Forschung und Betrachtung oft in ganz trockene Prosa auf, so daß es einem fast leid thut, die Wahrheit erfahren zu haben und dadurch des hübschen zaubervollen Gaukeleispiels, dessen die Phantasie sich erfreut, verlustig zu sein."

Der Gedanke, dass die Gegend an der Mauer in irgendeiner Form "schlimm", also Angst erregend oder gefährlich sein könnte, oder, wie Goethe in seiner Kindheit lernte, "nicht geheuer", leitete sich vor allem von der Bezeichnung der an der Mauer liegenden Straße her, die ursprünglich Froschgasse hieß, später aber in "Slymmengasse", "Schlymgasz" und "Schlimmengass" oder auch "Schlummengass" umbenannt wurde. "Schlimm" war an der Gasse nichts und ihr Name ging vermutlich nur auf Anwohner zurück, die "Slymme" hießen. Georg Wilhelm Pfeiffer deutet in der Einleitung zu einer seiner "Frankfurter Novellen" allerdings an, dass "Schlimm" auch moralisch gedeutet werden könnte und verweist auf früher hier angesiedelte Schankwirte und "Frauen, die es mit Zucht und Sitte nicht so genau nahmen."

Abbildungen der Schlimmen Mauer zeigen eine lange Mauer, die jedoch eher altertümlich als unheimlich wirkt, und deren Lage am damaligen Stadtrand Georg Wilhelm Pfeiffer beschreibt: "Wo von dem breiten Viehmarkte in der Neustadt schöne Gärten und Gemüsefelder nach den neu errichteten Festungsmauern und dem runden Thurme sich hindehnten, lief eine krumme Gasse zwischen Gartenmauern nach dem Eschenheimerthore." Von der in der "Schlimmengasse" verlaufenden Mauer abgeleitet wurde der Straßenname schließlich zu "Hinter der schlimmen Mauer". Bereits im 19. Jahrhundert wurde er durch die heute noch gültige Bezeichnung Stiftstraße - nach dem bis 1816 dort ansässigen Bürgerhospital der Senkenbergschen Stiftung, deren Garten durch die Schlimme Mauer begrenzt wurde - ersetzt. Daneben wurde noch für längere Zeit der alte, weniger schöne Name als inoffizielle Bezeichnung verwendet, wie man am Baedeker "Rheinlande" sieht, der noch 1862 die Lage des Restaurants Jacoby mit "hinter der Schlimmmauer (Stiftsstraße)" angab. Friedrich Stoltze dichtete: "'Schlimm Mauer' is awwer e ewe so [aber ein ebenso] vielversprechender Name als wie 'Krähe'". Dass in der ehemaligen Schlimmen Gasse im Zwanzigsten Jahrhundert tatsächlich Schlimmes passierte, nämlich das Haus Nr. 36 zum Tatort eines der skandalumwittertsten Frankfurter Mordfälle wurde, der Ermordung von Rosemarie Nitribitt, war nicht mehr als ein Zufall.

Goethe haben die Geschichten über die geheimnisumwitterte Mauer, die er aus seiner Kindheit kannte, zu seiner Erzählung "Der neue Paris" angeregt, die er in den zweiten Teil von "Dichtung und Wahrheit" aufgenommen hat. Ein junger Mann steht dort vor der ihm bekannten Mauer in einer Gegend, von der er gelernt hat, dass sie nicht geheuer sei, und entdeckt darin plötzlich ein geheimnisvolles und überaus reich verziertes Tor, das ihm nie zuvor aufgefallen war: "In diesen Gedanken vorwärts gehend erblickte ich, linker Hand, in der Mauer ein Pförtchen, das ich mich nicht erinnerte je gesehen zu haben. Es schien niedrig, aber der Spitzbogen drüber hätte den größten Mann hindurch gelassen. Bogen und Gewände waren aufs zierlichste vom Steinmetz und Bildhauer ausgemeißelt, die Türe selbst aber zog erst recht meine Aufmerksamkeit an sich. Braunes uraltes Holz, nur wenig verziert, war mit breiten, sowohl erhaben als vertieft gearbeiteten Bändern von Erz beschlagen, deren Laubwerk, worin die natürlichsten Vögel saßen, ich nicht genug bewundern konnte. Doch was mir das Merkwürdigste schien, kein Schlüsselloch war zu sehen, keine Klinke, kein Klopfer, und ich vermutete daraus, daß diese Türe nur von innen aufgemacht werde."

Durch einen alten Mann, der schließlich das Tor öffnet, erhält der junge Mann Einlass und gelangt in einen großen Garten, der immer paradiesischer auf seinen jungen Betrachter wirkt: "Nischen, mit Muscheln, Korallen und Metallstufen künstlich ausgeziert, gaben aus Tritonenmäulern reichliches Wasser in marmorne Becken; dazwischen waren Vogelhäuser angebracht und andre Vergitterungen, worin Eichhörnchen herumhüpften, Meerschweinchen hin und wider liefen, und was man nur sonst von artigen Geschöpfen wünschen kann." Es kommt zu einer Begegnung mit dem Mädchen Alerte und drei Frauen, von denen er zuvor geträumt hatte. Eine Schlacht mit Spielzeugsoldaten, die er mit dem Mädchen führt, endet schließlich mit seiner Vertreibung aus dem Gartenparadies, und er kann bei späteren Besuchen an der Schlimmen Mauer die Pforte nicht wiederfinden: "Sobald mir's nur irgend möglich war, ging ich wieder zur 'schlimmen Mauer', um wenigstens jene Merkzeichen im Gedächtnis anzufrischen und das köstliche Pförtchen zu beschauen. Allein zu meinem größten Erstaunen fand ich alles verändert. Nußbäume ragten wohl über die Mauer, aber sie standen nicht unmittelbar neben einander. Eine Tafel war auch eingemauert, aber von den Bäumen weit rechts, ohne Verzierung, und mit einer leserlichen Inschrift. Eine Nische mit einem Brunnen findet sich weit links, der aber jenem, den ich gesehen, durchaus nicht zu vergleichen ist; so daß ich beinahe glauben muß, das zweite Abenteuer sei so gut als das erste ein Traum gewesen: denn von dem Pförtchen findet sich überhaupt gar keine Spur."


*****

Textquellen:

Baedeker,Karl. Die Rheinlade von der Schweizer bis zur Holländischen Grenze, Schwarzwald, Vogesen, Haardt, Odenwald, Taunus, Eifel, Siebengebirge, Nahe, Lahn, Mosel, Ahr, Wupper und Ruhr. Handbuch für Reisende, 12. Aufl., Koblenz, 1862.

Enslin, Karl: Frankfurter Sagenbuch. Sagen und sagenhafte Geschichten aus Frankfurt am Main, Frankfurt a. M., 1856.

Frankfurt-Lexikon: Mit einem Stadtplan herausgegeben von Waldemar Kramer, Sechste, neubearbeitete Ausgabe. Frankfurt a. M., 1973.

Goethe, Johann Wolfgang von: Autobiographische Schriften, Erster Band: Aus meinem Leben, Dichtung und Wahrheit, Hamburg, 1967; (= Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. IX), S. 52-64.

Pfeiffer, Georg Wilhelm: Frankfurter Novellen: Culturgeschichtliche Bilder aus der Vergangenheit einer Reichsstadt, Frankfurt a. M., 1858.

Stoltze, Friedrich: Novellen und Erzählungen in Frankfurter Mundart, Frankfurt a. M., 1906.

>https://www.wikiwand.com/de/Liste_der_Stra%C3%9Fennamen_von_Frankfurt_am_Main/H< abgerufen am 31.07. 2020.


Bildquellen:

Vorschaubild: Ausschnitt aus einem Stadtplan von Frankfurt am Main: zwischen Bleichstraße und Stiftsraße, rechts neben dem Eschenheimer Tor ist in der Bildmitte das Stiftungsgelände der Dr. Senckenbergischen Stiftung dargestellt. Im hohen Gebäude neben dem Eschenheimer Tor befanden sich bis in frühe 20. Jahrhundert Museum und Bibliothek, 1864, Urheber: Friedrich Wilhelm Delkeskamp (1794 - 1872) via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

Das Bürgerhospital an seinem früheren Standort (bis zum Jahre 1907), Hinter der Schlimmen Mauer und Radgasse, heute Stiftstraße 30, um 1906, Urheber: unbekannt via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

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