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Der Bronstein-Defekt

und andere Geschichten

Christoph Werner

"Ich stellte bald an mir selbst die Verführung durch Zählen und Auswerten fest und empfand die Wonne, Gesetzmäßigkeiten bei gewissen Massenerscheinungen festzustellen. Nichts war vor mir sicher. Als erstes machte ich mich über die Friedhöfe her..."

Carl Theodor Reiffenstein

Carl Theodor Reiffenstein

Ralph Zade

Frankfurt ist eine Stadt der verschwundenen Orte. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Stadtzentrum zum größten Teil zerstört. Auch nach dem Krieg wurde noch Vieles abgerissen und bei weitem nicht alles rekonstruiert. Das ist jedem, der die Stadt ein wenig kennt, bekannt. Auch in der Gründerzeit hat es eine Zerstörung von Bausubstanz gegeben, die sich, wenn man darauf achtet, im Stadtbild heute noch nachvollziehen lässt, am deutlichsten in der Braubachstraße, die 1904-1906 durch einen Teil der Frankfurter Altstadt gebrochen wurde.

All diese Veränderungen hat Carl Theodor Reiffenstein (1820-1893) nicht mehr erlebt. Und doch war auch er mit der Zerstörung von Bausubstanz konfrontiert, die Teile des Alten Frankfurt verschwinden ließ. Es war vor allem die industrielle Revolution, die in der Biedermeierzeit dafür sorgte, dass sich das Stadtbild gegenüber dem, das Reiffenstein in seiner Kindheit erlebt hatte, wandelte. Bis 1812 waren die Stadtmauern abgerissen worden, die Stadt wuchs in den Folgejahrzehnten ins Umland. Menschen strömten in die Stadt, wodurch sich die Bevölkerung vervielfachte. Neue Verkehrsachsen wurden geschaffen. Die Veränderungen gingen Reiffenstein, der ein zutiefst konservativer Mensch war, nahe. Und so bemühte er sich, den Zustand seiner Heimatstadt vor dem Wandel zu dokumentieren.

Geboren wurde Carl Theodor Reiffenstein im „Kommelbecher“ genannten Haus in der Graubnergasse 18, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und inmitten der Frankfurter Altstadt stand, an einer Stelle, die sich heute auf dem Gebiet der Kleinmarkthalle befindet. Sein Vater war Bierbrauer und betrieb eine Schankwirtschaft, die sein Sohn seinem Willen nach übernehmen sollte. Dazu verspürte Carl Theodor jedoch keine Neigung. Bei dem Dekorationsmaler Falk, der im Haus seiner Eltern wohnte, hatte er schon als Kind Zeichenunterricht erhalten. Hieraus ergab sich eine Passion für die Kunst, die dazu führte, dass er erst bei einem Theatermaler in die Lehre ging und schließlich mit 13 im Städel als Schüler angenommen wurde, wo ihn unter anderem der Architekt Friedrich Maximilian Hessemer (1800-1860) und der Maler Jakob Becker (1810-72) unterwiesen. Einer seiner Mitschüler war Anton Burger (1824-1905), der später die Kronberger Malerkolonie mitbegründen sollte.

1846 verließ Reiffenstein das Städelsche Kunstinstitut und machte Reisen nach Brüssel und Paris, durch deutsche Landschaften, in die Schweiz und nach Italien. Dort sammelte er Landschaftsmotive und brachte es mit seiner Malerei, die stilistisch den Idealen der Düsseldorfer Schule folgte, zu Erfolgen auf internationalen Ausstellungen in Brüssel und Wien. Er erhielt nicht nur aus dem Rhein-Main-Gebiet, sondern auch aus überregionalen Adelskreisen Aufträge. Dabei blieb er jedoch seiner Heimatstadt eng verbunden und engagierte sich u. a. für das 1859 gegründete Freie Deutsche Hochstift.

Die Erfolge Reiffensteins beruhten zunächst wesentlich auf seinem Schaffen als Landschaftsmaler. Sein Herzensprojekt war aber ein anderes: die Dokumentation des Alten Frankfurt, d. h. des Gesichts der Stadt, wie er es in seiner Jugend in den 30er und 40er Jahren gesehen hatte, in Aquarellen und Zeichnungen. Diese Dokumentation darf man sich nicht trocken vorstellen: Reiffenstein setzte die Bauten in Szene, indem er sie in ein romantisierendes Licht tauchte, es sollte ein nostalgisches Idealbild erzeugt werden, das aber dennoch im Sinne einer dokumentarischen Genauigkeit exakt war. Wenn der Maler vom bevorstehenden Abriss eines Gebäudes hörte, ging er hin, um es vorher in einem mitgeführten Skizzenbuch darzustellen. Viele der Skizzen wurden dann zur Grundlage von Aquarellen. Wo Gebäude, die es in seiner Kindheit noch gegeben hatte, schon nicht mehr existierten, griff er auf ältere Darstellungen zurück. Wenn seine Bilder auch Personen zeigen, sind sie stets Staffage – im Mittelpunkt stehen immer die Bauten. Dabei dokumentierte er nicht nur die Repräsentativbauten, sondern auch gewöhnliche und bei diesen nicht nur die Schauseiten, sondern auch Treppen und Hinterhöfe sowie architektonische Details. Was in seiner Zeit dazukam, ließ er weg – es kam ihm darauf an, den alten Zustand festzuhalten, für sich selbst, aber auch für die Nachwelt. Dabei kamen über 2000 Zeichnungen und Aquarelle und 2400 Seiten Beschreibungen zusammen, mit denen er die bildlichen Darstellungen ergänzte, um präzise Aussagen über Standort und Geschichte des Dargestellten zu machen. Besonders die Aquarelle waren ihrer atmosphärischen Qualitäten wegen beim Publikum beliebt, da die primäre Bestimmung seines Projekts aber die Überlieferung an die Nachwelt war, verkaufte er seine „Sammlung Frankfurter Ansichten“ 1877 jedoch auf Rentenbasis an die Stadt Frankfurt, die sie ans Historische Museum gab, wo sie Teil des Gründungsbestands wurde.

Teilweise waren Reiffensteins Darstellungen verklärend – die Beschwernisse des Stadtlebens seiner Kindheit, wie sie z. B. durch die später verbotene Haltung von Nutztieren im Stadtgebiet entstanden, kamen nicht vor. Das damalige Zusammenleben idyllisierte er und lehnte viele aus heutiger Sicht sinnvolle Neuerungen ab. (Selbst in der Musik soll er einen konservativen Geschmack gehabt und ältere Komponisten den damaligen Neuerern wie Chopin und Richard Wagner vorgezogen haben.) Das Ziel seiner Arbeit, die Dokumentation des Stadtbildes zu einem klar definierten Zeitpunkt, hat er jedoch erreicht. Seine verklärende Sicht auf die alte Zeit hatte große Wirkungsmacht und trug zur sich dann entwickelnden Sicht auf die alten Stadtkerne in Deutschland bei. Als späte Folgewirkung hatten seine Bilder noch auf die Rekonstruktion von Teilen der Altstadt im Rahmen des Dom-Römer-Projekts Anfang des 21. Jahrhunderts einen Einfluss – eines Projekts, das deutlich weniger mit der tatsächlich existierenden Realität des Alten Frankfurt zu tun hat, als Reiffensteins Bilder, aber ebenso wie diese die negativen Seiten ausgeblendet hat.

Wer sich heute ein Bild vom Schaffen Reiffensteins machen will, kann dies nicht nur im Historischen Museum tun, sondern auch digital – im Rahmen einer 2022/23 stattfindenden Ausstellung wurde eine umfassende Digitalisierung von Bildern und Aufzeichnung Reiffensteins vorgenommen, die man nun im Internet einsehen kann. Auch in der Digitalen Sammlung des Städels gibt es Werke von Reiffenstein zu entdecken. Viele Bilder Reiffensteins befinden sich allerdings nach wie vor auch in Privatbesitz.

 

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Textquellen:

Cilleßen, Wolfgang P.; Gerchow, Jan; Schamschula, Aude-Line (Hrsg.): Alles verschwindet!: Carl Theodor Reiffenstein (1820–1893) – Bildchronist des alten Frankfurt (Kunststücke des Historischen Museums Frankfurt. Band 7). Henrich Editionen, Frankfurt am Main, 2022.

Weyel, Birgit: Reiffenstein, Carl Theodor: Artikel aus der Frankfurter Biographie (1994/96) in: Frankfurter Personenlexikon (Onlineausgabe) abgerufen von > https://frankfurter-personenlexikon.de/node/855< am 14.04.2023.

Carl Theodor Reiffenstein in der Allgemeinen Deutschen Biographie: abgerufen von >https://de.wikisource.org/wiki/ADB:Reiffenstein,_Karl_Theodor< am 14.04.2023.

Webseite des Historischen Museums Frankfurt zur Reiffenstein-Ausstellung 2022/23: abgerufen von >https://www.historisches-museum-frankfurt.de/reiffenstein< am 14.04.2023.

Webseite auf german-architects.com zur Reiffenstein-Ausstellung 2022: abgerufen von >https://www.german-architects.com/de/architecture-news/meldungen/die-zeichnungen-carl-theodor-reiffensteins-zeigen-die-geschichte-frankfurts< am 14.04.2023.

Bericht der Frankfurter Rundschau zur Reiffenstein-Ausstellung 2022: abgerufen von >https://www.fr.de/frankfurt/carl-theodor-reiffenstein-chronist-des-alten-frankfurt-91915813.html< am 14.04.2023.

Webseite des Historischen Museums Frankfurt zur Reiffenstein-Sammlung: abgerufen von >https://reiffenstein-sammlung-frankfurt.de/gebrauchshinweise< am 14.04.2023.

Link zur Digitalen Reiffenstein-Sammlung des Städel: abgerufen von >https://sammlung.staedelmuseum.de/de/person/reiffenstein-carl-theodor< am 14.04.2023.

 

Bildquellen:

Vorschaubild:

Carl Theodor Reiffenstein, um 1848 (Kalotypie von Fritz und Julie Vogel) via Wikimedia Commons Gemeinfrei; neu bearbeitet von Carolin Eberhardt.

Frankfurt Am Main-Fay-BADAFAMNDN-Heft 22-Nr 262-1906-Braubachstrasse Durchbruch nach Westen Niedergelegt 1905, Urheber: Carl Friedrich Fay via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

Carl Theodor Reiffenstein - Landschaft bei heranziehendem Gewitter, 1845 via Wikimedia Commons Gemeinfrei.

 

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