Was haben Peter Rühmkorf, Arnold Stadler, Wolfgang Hilbig, Wilhelm Genazino, Josef Winkler, Reinhard Jirgl, Friedrich Christian Delius und Marcel Beyer gemeinsam? Sie sind Schriftsteller und Gewinner des Georg-Büchner-Preises, des bedeutendsten Literaturpreises deutscher Sprache. Und noch etwas verbindet sie: Bevor sie den Büchner-Preis bekamen, waren sie Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, ebenso wie Herta Müller, die später den Literaturnobelpreis gewann.
Stadtschreiber gibt es auch in Mainz, in Dresden, Erfurt, Gotha, Halle, Magdeburg, Mannheim. Stuttgart, Trier, Tübingen und einer Reihe kleinerer Orte, in Österreich u. a. in Graz, Salzburg und Klagenfurt. Die Bezeichnung „Stadtschreiber“, die auf den ersten Blick auf den Leiter einer Stadtkanzlei passen könnte – und im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit in der Tat auch Derartiges bedeutete –, bezeichnet dabei ein Pro-forma-Amt, de facto ein Stipendium, das je nach Ausgestaltung mit dem Recht zur Benutzung einer Wohnung am entsprechenden Ort und mit Verpflichtungen, etwa zu Anwesenheitszeiten und der Abhaltung von Veranstaltungen sowie zum Schreiben von Texten mit Lokalbezug verbunden sein kann.
Das Stadtschreiber-Modell hat sich, wie man an seiner weiten Verbreitung sieht, als zweckmäßiges Stipendienmodell erwiesen, das der vergebenden Stadt ebenso etwas bringt, wie dem Stadtschreiber selbst. Erfunden wurde es 1974 in Bergen-Enkheim, das somit so etwas wie das Urheberrecht für die Bezeichnung Stadtschreiber beanspruchen darf. Da Bergen-Enkheim am 1.1.1977 nach Frankfurt eingemeindet wurde, ist der Stadtschreiber heute streng genommen ein Stadtteilschreiber, man beließ es aber bei der alten Bezeichnung. Teilweise wird auch von „Stadtschreibern von Bergen“ (ohne Enkheim) gesprochen. Bis heute nimmt der Stadtschreiberpreis von Bergen-Enkheim eine Sonderstellung ein und ist, gemeinsam mit dem Stadtschreiberpreis im nahe gelegenen Mainz, der bedeutendste seiner Art. Das liegt freilich nicht nur an seiner Pionierstellung, sondern vor allem an der Qualität der Autoren, die mit ihm ausgezeichnet wurden.
Erfinder des Stadtschreiberpostens in seiner modernen Bedeutung ist der in Aschaffenburg geborene Schriftsteller und Journalist Franz Joseph Schneider (1912-1984), der einige Jahrzehnte bis zu seinem Tode in Bergen-Enkheim lebte. Schneider war Mitglied der Gruppe 47 und trat in der Nachkriegszeit mit dem heute – aufgrund seines hohen dokumentarischen Werts zu Unrecht – vergessenen Erzählband „Kind unsrer Zeit“ hervor, in dem er, erzählerisch konventionell aber dennoch eindringlich, die bedrückende Atmosphäre der Nachkriegszeit einfängt. Auch die 1967 erschienene, aber schon in den 40er Jahren verfasste Erzählung „Die Mandel reift in Broschers Garten“, in der der Autor Kriegserlebnisse in Rumänien verarbeitete, ist durchaus lesenswert.
Die Idee, einen Stadtschreiberposten einzurichten, war seinem Initiator bei der Beerdigung von Günter Eich gekommen. Eich, der als Vertreter der sogenannten Kahlschlagliteratur ebenfalls – und literarisch deutlich höher stehend als Schneider – die Kriegserfahrung und das Lebensgefühl der Nachkriegszeit zum Gegenstand seines Schreibens machte, und heute als einer der bedeutendsten Lyriker seiner Epoche gilt, hatte zwar literarisch reüssiert, war aber dennoch in finanziell sehr prekären Verhältnissen gestorben. Der Preis sollte es talentierten Schriftstellern ermöglichen, zumindest ein Jahr lang ohne materielle Sorgen zu leben.
Schneider, der auch am Zustandekommen des Literaturpreises der Gruppe 47 seinen Anteil hatte, war im Brotberuf Werbeleiter und hatte somit ein Gespür für Publikumswirksames. Das mag mit dazu beigetragen haben, dass mit dem Stadtschreiberpreis ein Format geschaffen wurde, das bis heute eine größere Öffentlichkeit für Autoren zu interessieren vermag und als – wohl intendierte – Begleiterscheinung seinen Verleihungsort Bergen-Enkheim zumindest bei Literaturfreunden bundesweit bekannt gemacht hat. An der Durchsetzung des Projekts maßgeblich beteiligt war auch der Erste Stadtrat Alfred Schubert. Eine wichtige Rolle für den Erfolg spielte überdies die Unterstützung der Idee durch Marcel Reich-Ranicki, der später bemerkte, obwohl Schneiders literarische Begabung bescheiden gewesen sei, habe dieser durch die Initiierung des Preises mehr für die deutsche Literatur getan als die meisten Autoren. In der Verbindung mit Reich-Ranicki ist auch einer der Gründe dafür zu sehen, dass mit Wolfgang Koeppen einer der Lieblingsautoren des Kritikers der erste in der mittlerweile langen Reihe der Stadtschreiber wurde, mit Reich-Ranicki als Laudator. Schon mit der Auswahl dieses heute allgemein anerkannten Preisträgers wurde der Grundstein für den künftigen Erfolg gelegt.
Der Stadtschreiberpreis wird jedes Jahr im Rahmen des Volksfestes „Berger Markt“ verliehen, und zwar am Freitagabend vor dem ersten Dienstag im September. Da auch die Laudatoren meist in der literarischen Welt prominent sind, ist ein lebhaftes Interesse an der entsprechenden Veranstaltung die Regel. Der Preis besteht in der Überlassung des Häuschens „An der Oberpforte 4“ für ein Jahr einschließlich aller Nebenkosten und einem Preisgeld von derzeit 20000 Euro. Weitergehende Verpflichtungen gibt es nicht, das Amt des Stadtschreibers ist ein rein symbolisches, de facto kommen die Stadtschreiber aber oft zu Lesungen nach Bergen. Traditionellerweise gibt es einen Volkshochschulkurs zum Werk des Preisträgers. Zudem haben die Stadtschreiber die Möglichkeit, andere Schriftsteller und Künstler nach Bergen-Enkheim einzuladen. Die Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim hat 2009 ein Stadtschreiberarchiv eingerichtet.
Vergeben wird der Preis durch eine Jury aus neun Personen, nämlich drei anerkannten Persönlichkeiten der literarischen Welt, dem Preisträger des Vorjahres und vier sachkundigen Bürgern aus Bergen-Enkheim unter dem Vorsitz des Ortsvorstehers des Ortsbezirks 16. Die Jury hat oft eine sehr glückliche Wahl getroffen; nicht nur die spätere Nobelpreisträgerin und die zahlreichen Büchnerpreisträger sprechen dafür – in der Liste der Amtsinhaber findet sich kaum ein Name, der Literaturliebhabern unbekannt ist.
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Textquellen:
Schneider, Franz Joseph: Kind unsrer Zeit: Deutsche Stories: Walter Rau, Dietmannsried / Allgäu, Heidelberg, 1947.
Schneider, Franz Joseph: Die Mandel reift in Broschers Garten: Eine Erzählung: Friedenauer Presse, Berlin-Friedenau, 1967.
Reden zur Verleihung des Literaturpreises Stadtschreiber von Bergen 1974-1998, Wallstein, Göttingen, 1998.
Kramer, Waldemar: Zeit-Reden: 40 Jahre Stadtschreiber von Bergen: Schneider, Adrienne (Hrsg.), Frankfurt am Main, 2014.
Webseite zu den Stadtschreibern auf frankfurt.de: > https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2083091 < abgerufen am 17.10.2018.
Webseite mit verlinkten Reden zum Stadtschreiberpreis: > https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=24374620 < abgerufen am 17.10.2018.
Webseite auf dem Kulturportal Frankfurt zu den Stadtschreibern: > https://www.kultur-17.10.2018.frankfurt.de/portal/de/startseite/literatur/6/1280/0/0/1159.aspx < abgerufen am 17.10.2018.
Webseite zum Stadtschreiberfest auf den Seiten des Berger Marktes: >http://www.berger-markt.de/stadtschreiberfest.html < abgerufen am 17.10.2018.
Bildquellen:
Vorschaubild: 45 Namensschilder am Haus (August 2018), 2018, Urheber: via Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0.
Stadtschreiberhaus, 2011, Urheber: Dontworry via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.